Lebensschutz ungeborener Kinder. Orthodoxe Bewertung einer jüngst entflammten Debatte
- Der Bote
- 28. Juli
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 23. Sept.
Bischof Hiob von Stuttgart (Dr. Bandmann)
Der Eklat um die Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht, Frauke Brosius-Gersdorf – deren umstrittene Positionen etwa zu Schwangerschaftsabbruch und Impfpflicht heftige Kritik ausgelöst haben und deren Wahl auf Betreiben der CDU-Fraktion im Bundestag kurzfristig abgesagt wurde – hat die öffentliche Debatte über den Lebensschutz neu entfacht.
Wie kann sich die orthodoxe Kirche, die in Deutschland von mehreren Millionen Gläubigen getragen wird, in diese Debatte einbringen? Welche Rolle kann sie im zunehmend polarisierten Kulturkampf zwischen konservativen und liberalen Kräften spielen? Und ist der Lebensschutz womöglich das Schlüsselthema, das nicht nur über die moralische Zukunft unserer Gesellschaft entscheidet, sondern auch über unsere Berufung und Verantwortung als orthodoxe Christen in ihr?
Was bedeutet Lebensschutz?

Lebensschutz ist zunächst ein juristischer Begriff. Theologen beschäftigen sich stattdessen mit den ethischen Grundlagen der Gesetzgebung. Dabei ist zu bedenken, dass die westlichen Demokratien ihre Gesetze nicht direkt auf christliche, sondern auf aufklärerische Werte gegründet haben, die wiederum den christlichen Werten entsprungen sind.
Das heißt, es gibt keinen direkten Rückgriff etwa auf die biblischen Gebote, sondern auf eine aus theologischer Sicht eher vage Definition von Menschenrechten. Betrachtet man die biblische Überlieferung über das Recht auf Leben, dann wird deutlich, dass Gott derjenige ist, der das Leben gibt und auch als Einziger das Recht hat, es zu nehmen. Den Menschen hingegen ist es nicht erlaubt, Leben zu nehmen, das Blut anderer zu vergießen.
„Du sollst nicht töten.“ Ex 20, 13
In seiner Predigt zeigte Jesus Christus anhand dieses Gebotes auf, dass das Gesetz nicht nur nach seinem Wortlaut zu verstehen ist: Wer es aus Liebe zu Gott befolgt, beschränkt sich nicht auf die Erfüllung des Buchstabens.
"Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht töten; wer aber töten wird, der wird dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch, dass jeder, der seinem Bruder zürnt, dem Gericht verfallen sein wird; wer aber zu seinem Bruder sagt: Raka! dem Hohen Rat verfallen sein wird; wer aber sagt: Du Narr! der Hölle des Feuers verfallen sein wird." Mt 5, 21f
Schwer nachvollziehbar für die Prediger einer modernen liberalen Ethik ist auch die Selbstverständlichkeit, mit der in der Bibel der Mensch von Gott ermächtigt wird, sich die Schöpfung untertan zu machen – dazu gehört auch das Töten von Tieren für Nahrung oder als Opfergabe.
"Und Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, und füllt die Erde, und macht sie [euch] untertan;" Gen 1,28
Dabei ist auch hier die biblische Überlieferung differenzierter als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Im Paradies und später ernähren sich Menschen und Tiere von „grünem Kraut und Früchten“[1]. Erst wesentlich später wird Jakob, der klügere der beiden Söhne Isaaks, als Ackerbauer und Viehzüchter, der rauhaarige Esau hingegen als Jäger charakterisiert. Die Jagd auf Tiere kann nur nach der Sintflut beginnen, mit Gottes Segen – dies mit der Wiederholung des oben zitierten Segensgebots der Vermehrung. Was das Blutvergießen am Menschen anbelangt, so ist das Verbrechen mit Kain und dem kainitischen Nachkommen Lamech vor der Sintflut benannt (Gen 4). In dem von Gott nach der Sintflut gestifteten Bund (Gen 9,1-12) gilt die Perspektive einer Schicksalsgemeinschaft der gesamten Schöpfung, verbunden mit einer Vollmacht aber unter strengster Verantwortung:
„Auch euer Blut, das Blut eures Lebens, werde ich fordern; ich werde es fordern von jedem Tier und von dem Menschen. Von einem jeden, selbst von seinem Bruder werde ich das Leben des Menschen fordern." (Gen 9,5)
Die postmoderne Umweltethik versucht, den Menschen seiner Erhabenheit in der Verantwortung zu berauben, fordert dagegen eine kommunistisch-gottlose Gleichstellung mit der übrigen Natur, was sich in einer z.T. übertriebenen Gesetzgebung und Bevormundung der Bürger durch die postmodernen Staaten in Bereichen wie Umweltschutz, Tier- und Artenschutz niederschlägt. Sollten demgegenüber Lebensschutz und Rechte nicht wieder klar differenziert und stärker auf den Menschen fokussiert werden?
Wo beginnt Lebensschutz?
Während heute einerseits der Schutz einer seltenen Tierart so großgeschrieben wird, dass z.T. die Rechte der Menschen in ihrer Nachbarschaft massiv eingeschränkt werden können, scheint andererseits der Schutz ungeborenen menschlichen Lebens vor dem Anspruch der Frau, frei über ihren Körper entscheiden zu können, mehr und mehr vernachlässigt zu werden. In der Abtreibungs-Debatte wird hierzu immer wieder die unaufrichtige Frage gestellt, ab welchem Zeitpunkt das Leben im Mutterleib beginnt bzw. als eigenständige, und damit schützenswerte Person gelten sollte.
Seit Beginn der christlichen Ethik wurde Abtreibung mit Totschlag gleichgesetzt.[2] Früher wusste man jedoch wenig über die Vorgänge in den ersten Tagen und Wochen der Schwangerschaft – erst sichtbare Veränderungen wie etwa das Ausbleiben der Regel, der Herzschlag des Fötus oder der wachsende Bauch zeigten an, dass ein neues Leben entsteht.
Abtreibung meint jede absichtliche Unterbrechung dieses natürlichen Entwicklungsprozesses des menschlichen Lebens. Heute streiten sich sogar Theologen darüber, worauf sich das Menschenrecht auf Leben beziehen lässt, sie suchen nach Kriterien, um das eine oder andere Stadium im biologischen Prozess als Beginn vollwertigen und eigenständigen Lebens zu deuten. Dieser Beginn wird mitunter mit der Einnistung (Nidation) des Embryo in die Gebärmutterschleimhaut, mit der Differenzierung der Zellen, mit dem ersten Herzschlag oder mit dem Moment, an dem ein Fötus theoretisch auch außerhalb des Mutterleibes überleben kann (mit medizinischer Hilfe), gleichgesetzt. Aus christlicher Sicht ist es hingegen müßig, ja zynisch, irgendeine Grenze zu setzen, ob am 8. Tag oder erst nach 3 Wochen: in jedem Fall wird ein Leben verachtet, das seit der Befruchtung der Eizelle in seinem vollen Potential existiert und persistiert.
Stattdessen sollte man m.E. die Möglichkeiten der modernen Medizin, die Prozesse der Schwangerschaft genau bestimmen und beobachten zu können, zum Anlass nehmen, auch aus moralischer Sicht genauer hinzusehen. Denn dann ist erst recht jeder Versuch, in diesen natürlichen Vorgang einzugreifen und das bereits entstehende Leben wieder zu nehmen, eine Sünde – eine Wunde in der Beziehung der Menschen zu einander, zu sich selbst und zum Schöpfer.
Zur Verhütung
In Bezug auf die Verhütung unterscheiden sich die Ansichten der orthodoxen Kirche von der römisch-katholischen Kirche. Letztere ist bekannt für ihre strikte Ablehnung jeglicher Verhütungsmethoden.[3] Aus orthodoxer Sicht ist diese Haltung schwer nachvollziehbar. Der katholischen Lehre zufolge ist die körperliche Liebe zwischen Mann und Frau nur dann von Gott gesegnet, wenn die Möglichkeit der Zeugung von Menschenleben besteht. Geschlechtsverkehr dient demnach ausschließlich der Fortpflanzung. Jede körperliche Vereinigung, die der Pflege der Liebe, dem Aufbau von Intimität oder der Befriedigung gegenseitigen Verlangens dient, wird von der katholischen Kirche als Sünde betrachtet, wenn sie nicht dem Zweck der Kinderzeugung dient.
Obwohl die Orthodoxie keine systematische oder verbindliche ethische Lehre zu diesem Thema besitzt, herrscht unter orthodoxen Theologen Konsens darüber, dass Verhütung im Rahmen einer Familienplanung und eines verantwortungsvollen Umgang mit dem Thema durchaus angebracht ist. Geschlechtliche Liebe geht weit über die Zeugung von Kindern hinaus. Alexander Schmemann hat das orthodoxe Verständnis m.E. auf den Punkt gebracht: „Liebe bedarf keiner Rechtfertigung. Nicht weil sie Leben schenkt, ist die Liebe gut, sondern weil sie gut ist, schenkt sie Leben.“[4]
Der Umgang mit Frauen in Not
Die Sozialdoktrin der Russischen Orthodoxen Kirche aus dem Jahre 2001 gilt als erstes Dokument seiner Art in der gesamten Orthodoxie, welches sich mit bioethischen Fragen befasst und Regelungen dafür anbietet. Es verweist einerseits darauf, dass der Schwangerschaftsabbruch nach bis heute geltendem Kirchenrecht als Mord gilt; andererseits unterstreicht es, dass die Menschen hinter dieser Handlung, die Schicksale der Frauen ernst genommen werden müssen. Die Sünde der Abtreibung bleibt Sünde, aber sie ist anders zu bewerten, wenn bspw. eine schwere Vergewaltigung, soziale Not oder Lebensgefahr die Mutter zu dieser Tat treiben.
So wird der geistliche Vater bzw. der Beichtvater sich mit den Umständen und der gesamten Situation einer Frau beschäftigen müssen, um entscheiden zu können, welche Form der Buße für sie, aber auch für den Vater heilsam sein kann.
Die Kanones der Alten Kirche kannten diese seelsorgliche Differenzierung noch nicht. Diese neuere Weiterentwicklung des kirchlichen Disziplinarrechts ist daher m.E. zu begrüßen.
Weder in den Heimatländern der orthodoxen Kirchen noch hier in der Diaspora gibt es (abgesehen von kleineren Pilotprojekten nach westlichem Vorbild) kirchliche Beratungsstellen für Frauen in Not oder spezialisierte Betreuung nach einem Schwangerschaftsabbruch. Das muss nicht als Desinteresse oder Unprofessionalität von Seiten der orthodoxen Kirchen ausgelegt werden, denn meiner Beobachtung nach legen diese mehr Wert auf eine ganzheitliche pastorale bzw. seelsorgerische Arbeit, die von den Priestern vor Ort geleistet wird. Spezialisten, die darin geschult sind, Frauen zu beraten, die ungewollt schwanger geworden sind, mögen ein guter Weg sein. Aus der pastoralen Sicht gilt es, stets den ganzen Menschen zu betrachten und zu heilen; spezifische Probleme und Konfliktsituationen sind häufig nur die Spitze des Eisbergs.
Abtreibung in der staatlichen Gesetzgebung
Die Trennung von Staat und Kirche ist in Deutschland keine konsequente. Die Gesetzgebung bzw. das Bundesverfassungsgericht orientieren sich in ihren Entscheidungen in der Regel an den ethischen Grundsätzen und Standards der Gesellschaft, die nach wie vor zu einem gewissen Teil auf dem christlichen Glauben basieren. Gott sei Dank hält dieser in Deutschland noch eine Mehrheit.
Je mehr jedoch der Einfluss des Christentums schwindet und je mehr sich die hier historisch ansässigen Konfessionen von ihren eigenen ethischen Grundsätzen entfernen, je mehr in der Gesellschaft die moralischen Standards aufgeweicht und verändert werden, desto mehr ändert sich auch die Gesetzgebung und desto mehr fühlen sich die Verfassungshüter einer liberalen und post-christlichen Grundhaltung verpflichtet.
Die Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht Prof. Brosius-Gersdorf
Wenn wir Christen unsere Verantwortung nicht mehr wahrnehmen, die biblischen Werte bzw. die christliche Ethik vorzuleben und zu verkünden, wenn wir im öffentlichen Diskurs nicht klar benennen, worin die Botschaft Christi besteht, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, dass Menschen mit Überzeugungen aufwachsen, die dem Christentum fremd sind, und es normal finden, wenn auch der Staat und die Rechtsprechung diese Haltung einnehmen.
Dahingegen hat es Hoffnung gemacht, dass die Christdemokraten dem Druck konservativer Christen in unserer Gesellschaft nachgegeben haben, als es um die Wahl der kontroversen Kandidatin für das Amt der Verfassungsrichterin ging. Anstatt sich von Tagespolitik und parteitaktischem Ämtergeschacher leiten zu lassen, folgten einige Politiker ihrem Gewissen, als es darum ging, Vertreter des Volkes an das Bundesverfassungsgericht zu entsenden – die höchste moralische Instanz des Staates.
Die Positionen von Frauke Brosius-Gersdorf, die sie in den letzten Jahren z.T. öffentlich gemacht hat, sind für viele Deutschen heute normal und selbstverständlich, obwohl viele ihrer Positionen für gläubige Christen widersprüchlich und moralisch fragwürdig erscheinen. In einem gemeinsamen Gutachten mit ihrem Mann aus dem Jahr 2021 vertrat sie die Auffassung, dass eine allgemeine Impfpflicht für COVID‑19 mit dem Grundgesetz vereinbar sei – und in bestimmten Situationen verfassungsrechtlich sogar geboten sein könnte. Sie schlug zudem vor, Ungeimpften die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu streichen und sie an den Behandlungskosten bei schwerem Verlauf zu beteiligen.[5] Während sie also diesen staatlichen Übergriff auf die körperliche Unversehrtheit gutheißen konnte, hält sie auf der anderen Seite das Recht der Frau, über ihren Körper allein zu bestimmen, für höher als das Recht auf Leben des von ihr ausgetragenen Kindes. In der frühen Schwangerschaftsphase (bis etwa 12 Wochen) komme ihrer Meinung nach dem Lebensrecht des Embryos „nur geringes Gewicht“ zu; die Grundrechte der Frau dominierten – Abtreibung müsse hier „rechtmäßig“ und straffrei möglich sein. Aber auch nach 12 Wochen, in der sog. mittleren Phase soll es ihr zufolge weiteren „gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum“ geben, insbesondere wenn die Fortsetzung der Schwangerschaft als unzumutbar gelte.
Ihre juristischen Argumentationen stehen exemplarisch für eine ethische Orientierung, die mit der christlichen Vorstellung vom Lebensschutz nicht mehr kompatibel ist. Man konnte bei der letzten Bundestagswahl (23. Februar 2025) deutlich beobachten, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung konservative und rechte Parteien gewählt hat. M.E. besteht ein wichtiger Grund darin, dass ein Großteil der Bevölkerung nicht mehr mit den linken Positionen bestimmter Parteien und der Gängelung der Bürger durch Gebote, Verbote und Strafbesteuerung einverstanden ist. Für die traditionell eher konservative Mitte der Gesellschaft ist es zunehmend unverständlich und realitätsfern, was ihr von der Politik aufgedrückt wird. Viele orthodoxe Christen sehen in dieser Entwicklung eine Rückbesinnung auf traditionelle Werte. Zugleich bedarf es einer kritischen Auseinandersetzung mit politischen Extremen. In dieser neuen, sich erst langsam anbahnenden Situation gilt es jedoch auch darauf zu achten, nicht von den extremen Kräften vereinnahmt und mitgerissen zu werden. Aggressive Diffamierungskampagnen helfen niemandem.
Der orthodoxe Beitrag in der Gesellschaft
In den letzten Jahren ist zu beobachten, dass orthodoxe Christen, vor allem Jugendliche, aber auch Priester hier in Deutschland regelmäßig und mit Ernsthaftigkeit an den Demonstrationen zum Schutz von Leben teilnehmen, den sogenannten Märschen für das Leben. Dabei sind sie an den Ikonen, die sie nach orthodoxer Tradition mit sich tragen, meist gut zu erkennen. So bezeugen sie, dass der Lebensschutz ein besonderes Anliegen unserer Kirche ist. Es bleibt zu hoffen, dass unser Zeugnis, dass unser kleiner Beitrag in der deutschen Gesellschaft wahrgenommen wird und Widerhall findet.
[1] Vgl. Gen 1,29-30, wo Gott Adam und Eva sowie allen Landtieren und Vögeln „grünes Kraut und Frucht tragende Bäume zur Ernährung“ gab.
[2] Vgl. Die Lehre der zwölf Apostel (Aus dem Griechischen übersetzt von Franz Zeller) In: Die Apostolischen Väter. (Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 35) München 1918, S. 7: „… du sollst nicht das Kind durch Abtreiben umbringen und das Neugeborene nicht töten“.
[3] Ehe und eheliche Liebe sind nach der Enzyklika "Humanae Vitae" von Papst Paul VI. (1963-1978) "in ihrem Wesen nach auf die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft ausgerichtet“. Einzig die "Inanspruchnahme unfruchtbarer Perioden" als Natürliche Familienplanung sei erlaubt.
[4] A. Schmemann, Aus der Freude leben (Orig. „Sacraments and Orthodoxy“, übs. von Margarete Zimmerer), Olten 1974, S. 106.
[5] Siehe https://www.uni-potsdam.de/fileadmin/projects/lehrstuhl-brosius-gersdorf/Dokumente/Aktuelles/Stellungnahme_zur_Einführung_einer_allgemeinen_Impfpflicht.pdf. Ihre damalige Position zur Impfpflicht und „Schutz der Geimpften vor den Ungeimpften“ hat sie zuletzt relativiert.
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