Metropolit Antonij (Chrapovickij) und die panorthodoxe Einheit
- Der Bote
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Der nachfolgende Artikel ist Erzpriester Nikolai Artemoff gewidmet. Die Redaktion des Boten gratuliert im herzlich zu seinem Jubiläum!

Autor: Erzpriester Valentin Asmus
Hochwürdigster Vater, lieber, im Herrn, Erzpriester Nikolaj!
Unsere Bekanntschaft dauert nun schon 35 Jahre, und ich habe jederzeit beobachten können, dass Sie den Blick Ihrer Seele auf das Wesentliche, das wahrlich Wichtige und Grundlegende richten. Ihr Interesse und Ihre Verehrung für den großen Hierarchen, Metropolit Antonij, sind für Sie ganz natürlich. In Erinnerung an unsere Gespräche und gelegentlichen Streitgespräche, möchte ich Ihnen zu Ihrem Jubiläum eine kleine Notiz über den Hochseligen Metropoliten widmen.
Die Sorge und Aufmerksamkeit (2 Kor 11,28), die Metropolit Antonij der Beziehung zwischen der Russischen Kirche und den anderen orthodoxen Lokalkirchen widmete, ist ein äußerst großes Thema, das eine umfassende Untersuchung verdient. Hier soll nur anhand dreier Beispiele aus ganz unterschiedlichen Bereichen des kirchlichen Lebens gezeigt werden, welche Bedeutung seine einflußreichen Stellungnahmen für die Herausforderungen des kirchlichen Lebens hatten.

Im Jahr 1915 erreichte die russische Diplomatie, dass die Entente Russland Konstantinopel versprach. Dass dies eine Falle war, konnte man damals nur ahnen. In Russland nahm man dies als bare Münze. Die Mehrheit des Heiligen Synods vertrat die typische Ekklesiologie des 19.–20. Jahrhunderts: ein Land, eine Nation, eine autokephale Kirche. Diese Autokephalie stieß nun auf ein unlösbares Problem: Was tun, wenn sich der Ökumenische Patriarch plötzlich auf russischem Territorium befindet? Sollte man ihn dem St. Petersburger Synod unterstellen? Oder sollte man ihn nach Kleinasien zurückschicken, wo er damals – vor dem Völkermord 1922–1923 – noch anderthalb Millionen Gläubige hatte?
Metropolit Antonij trat im Synod für den Patriarchen von Konstantinopel ein. In erhabenen Bildern beschrieb er die große Bedeutung des Konstantinopler Thrones in verschiedenen Epochen der Kirchen- und Weltgeschichte. Sein Fazit: Dieser hochverdiente Thron müsse an seinem Platz bleiben und seine Selbständigkeit bewahren. Die Mehrheit im Synod (und nicht nur dort) hatte da bereits vergessen, wie beispielsweise Kaiser Justinian seine Erlasse an alle fünf Patriarchen richten konnte.
Dank der Rede Metropolit Antonijs wurde die Frage im Synod „auf Eis gelegt“, und es wurde keine Entscheidung getroffen, die das Gewissen belastet hätte – unabhängig davon, ob sie überhaupt umsetzbar gewesen wäre.
Der zweite Fall betrifft die Frage des Kirchenkalenders. Auf dem "Panorthodoxen Kongress von Konstantinopel" im Jahr 1923 wurde die Russische Kirche durch zwei Hierarchen vertreten: Erzbischof Alexander (Nemolovskij) und Erzbischof Anastasij (Gribanovskij). Erzbischof Alexander unterstützte – wie auch die serbische Delegation unter Metropolit Gavrilo, dem späteren Patriarchen – begeistert alle Vorhaben der Leitung des Kongresses, einschließlich der Kalenderreform. Erzbischof Anastasij hingegen war über die vorgeschlagene Reform klar unzufrieden, verhielt sich aber sehr zurückhaltend; sein Schlüsselwort war: „Ich habe keine Vollmachten.“ Nachdem er den Kongress frühzeitig verlassen und Metropolit Antonij über alles informiert hatte, blieb dieser frei von lautstarken Anklagen oder Verurteilungen.

Metropolit Antonij wirkte lieber durch stille persönliche Ermahnungen – und diese waren erfolgreich: Die Serbische Kirche nahm den neujulianischen bzw. korrigierten julianischen Kalender (entwickelt von einem der serbischen Vertreter auf dem "Panorthodoxen Kongress", dem Astronomen M. Milanković) nicht an. Metropolit Antonij war und blieb Gegner des neuen Kalenders. Er war jedoch nicht der Ansicht, dass die Einführung des neuen Stils für unbewegliche Feste ein hinreichender Grund für einen Abbruch der kirchlichen Gemeinschaft sei, da die Kalenderfrage nicht von dogmatischer Natur war.
Wachsam beobachtete er das Wirken neukalendarischer Ersthierarchen und beurteilte jeden von ihnen konkret nach der Gesamtheit seiner Taten. „Nicht als Anweisung, sondern aus Überzeugung“, riet Metropolit Antonij:
„Man muss den Übergang zum neuen Stil – der zwar zu missbilligen ist, aber weder eine Häresie noch eine Spaltung bedeutet (und der die Gläubigen nicht vom Besuch dieser Kirchen abhalten sollte) – unterscheiden von der Veränderung des Ostertermins und des Triodions. Für diese Übertretung ist ein Anathema ausgesprochen. […]
In eine Kirche, die den neuen Stil angenommen hat, kann man zum Gebet gehen; aber eine Kirche, die den Tag des heiligen Osterfestes geändert hat, sollte man nicht aufsuchen. […]
Ebenso ist über den Empfang der Sakramente und kirchlichen Segenshandlungen zu urteilen.“[1]
Auffällig ist, dass die Position Metropolit Antonijs in der Kalenderfrage nicht vollkommen mit der des heiligen Patriarchen Tichon übereinstimmt. Dieser schrieb bereits am 21. Januar 1919 an den Konstantinopler Patriarchen Germanos V. (der schon am 12. Oktober 1918 aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand versetzt worden war) und teilte mit, dass der Heilige Synod Russlands bereits 1917 den orthodoxen Gläubigen Finnlands erlaubt hatte, alle Feste nach dem westlichen Kalender zu feiern. Zugleich bat er den Patriarchen, eine panorthodoxe Beratung über die Kalenderfrage einzuleiten, und schlug vier mögliche Lösungen vor:
panorthodoxe Beibehaltung des julianischen Kalenders in seiner Gesamtheit, was nach Meinung des hl. Tichon vorzuziehen wäre;
panorthodoxe Annahme des neuen Stils;
Annahme des neuen Stils für unbewegliche Feste bei gleichzeitiger Beibehaltung der alten Osterrechnung;
freie Annahme eines der drei genannten Modelle durch jede Lokalkirche unter der Bedingung, dass brüderliche Gemeinschaft und Liebe bewahrt bleiben.[2]
Auch die Frage des alttestamentlichen Kanons gehört zu den panorthodoxen Themen, da sie in der Russischen Kirche anders geregelt ist als in den übrigen Kirchen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde die Russische Kirche durch die theologischen Werke von Erzbischof Feofan Prokopovič protestantisch beeinflusst. In seiner auf Latein verfassten Dogmatik zählt er in spöttischen Hexametern die „Apokryphen“ des Alten Testaments auf und zieht den Schluss, dass sie „zu Recht nicht als göttliche Schriften bezeichnet werden können“.
Nicht nur der Kanon des Alten Testaments, sondern, was noch erstaunlicher ist, auch der Kanon des Neuen Testaments kristallisierte sich erst nach sehr langer Zeit heraus. Im 8. Jahrhundert nimmt Johannes von Damaskus, auf den sich der Ausführliche Christliche Katechismus (des hl. Filaret von Moskau) in der Frage des Kanons der Heiligen Schrift bezieht, die Regeln der Heiligen Apostel in den Kanon des Neuen Testamentes auf. Er stützt sich dabei offenbar nicht auf eine bestimmte Tradition, sondern auf seine eigene Schlussfolgerung – aus ihrem apostolischen Ursprung auf ihre Zugehörigkeit zum Kanon. Im Allgemeinen gibt es unter den wenigen Konzils- und Kirchenväterurteilen und Meinungen des 4. bis 8. Jahrhunderts über den Kanon, auf die man sich gewöhnlich bezieht, nicht einmal zwei, die in allen Punkten übereinstimmen. Im 12. Jahrhundert bemerkt Johannes Zonaras in seinem Kommentar zum 85. Apostolischen Kanon, dass „einige andere Zählungen es erlauben [im Gottesdienst – ein Zeichen der Kanonizität] auch die Bücher Weisheit Salomos und Judas und Tobit und die Apokalypse zu lesen“. Dabei erwähnt er nicht, dass wiederum andere die in dieser Apostolischen Regel genannten Makkabäerbücher nicht in den Kanon aufnehmen. Man tendierte offensichtlich dazu, positive Meinungen über die Kanonizität des einen oder anderen Buches zu übernehmen und negative zu ignorieren.
Die Protestanten, die sich auf die hebräische Bibel stützten, stellten das Problem des Kanons scharf, während sich die Orthodoxen auf die Septuaginta (und die Katholiken auf die Vulgata, die auf dieselbe Septuaginta zurückgeht) stützten. Die Frage avancierte zu einem internen orthodoxen Problem, als der Patriarch von Konstantinopel, Cyril Lukaris, sein protestantisch geprägtes Bekenntnis des Glaubens der Ostkirche veröffentlichte, in dem auch ein protestantischer Kanon der Heiligen Schrift vorgeschlagen wurde. Das „Orientalische Bekenntnis des christlichen Glaubens” von C. Lukaris, erstmals 1629 in Genf veröffentlicht, wurde von der Orthodoxen Kirche mehrfach verurteilt. Patriarch Dositheos II. von Jerusalem (1669-1707) verfasste eine ausführliche Widerlegung von Lukaris' „Bekenntnis“. Diese Widerlegung wurde als „Glaubensbekenntnis der Orthodoxen Kirche” vom Lokalkonzil von Jerusalem 1672 verabschiedet. 1723 fand in Konstantinopel ein Konzil unter der Leitung der Patriarchen von Konstantinopel, und dem Patriarchen von Antiochien und Jerusalem statt, welches auf Bitten des russischen Zaren auf die Frage oppositioneller Anglikaner nach der Möglichkeit ihrer Vereinigung mit der Orthodoxen Kirche einging. Als Grundlage für die Vereinigung schlug ihnen das Konzil das Glaubensbekenntnis des Patriarchen Dositheos vor. In seiner Antwort zählt Dositheos zu den kanonischen Büchern des Alten Testaments auch jene Bücher, die Lukaris
„unvernünftig und unwissend, ja sogar böswillig als Apokryphen bezeichnet hat, einfach und beliebig, nämlich Tobit, Judas, Esra sechs weitere Kapitel, das zweite Buch Esra, Baruch, das dritte Kapitel Daniels mit dem Lied der drei Jünglinge, die Geschichte Susannas, die Geschichte Bel und des Drachens, die Weisheit Salomos, die Weisheit Sirachs und die drei Bücher der Makkabäer”.
Der Heilige Synod Russlands hat dieses Bekenntnis nie in Frage gestellt. Bis in die 1870er Jahre erschien dieses im Druck jedoch unter Auslassung der zitierten Frage und Antwort. Auch bei der Veröffentlichung des griechischen Textes wurde es einer solchen Kürzung unterzogen. Erst nach dem Tod des hl. Filaret (+ 1867) wurde die Veröffentlichung der vollständigen Fassung der Enzyklika von 1723 und ihres griechischen Originals möglich. Der Ausführliche Katechismus („des Filaret“) blieb jedoch unverändert mit seiner Lehre über den Kanon als Liste von „22 Büchern“ entsprechend der Anzahl der Buchstaben des hebräischen Alphabets. Dies entspricht der Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts und entspricht nicht der Bibelwissenschaft des 21. Jahrhunderts. Dies entspricht dem protestantischen Kanon und entspricht nicht der orthodoxen Tradition. In der Kirche lesen wir häufig aus der Weisheit Salomos, doch laut den Kanones dürfen nichtkanonische Bücher in der Kirche nicht verlesen werden. Alle russischen bibelwissenschaftlichen Lehrbücher vermitteln nach wie vor die Lehre über den Kanon gemäß dem Ausführlichen Katechismus. Und selbst in der russischen Übersetzung des alttestamentlichen Lehrbuchs von F. Viguro hat der Übersetzer den Autor, einen waschechten Katholiken, dazu gebracht, die protestantische Lehre über den Kanon zu vermitteln.
Im Zuge seiner Überarbeitung des Katechismus gab Metropolit Antonij eine eigene Formel vor, die zwar die alte Schulterminologie beibehielt, deren Bedeutung jedoch radikal veränderte: Die heiligen Bücher des Alten Testaments werden unterteilt in „kanonische, die sowohl von Christen als auch von Juden anerkannt werden, und nichtkanonische, die nur von Christen anerkannt werden, während die Juden sie verloren haben“[3]. In Bezug auf Juden und (unabhängig von ihrer Konfession) Christen dachte Metropolit Antonij sicherlich nicht an jüdisch-christliche oder interkonfessionelle christliche Beziehungen, sondern an eine panorthodoxe Vereinbarung über die Einheit in der Lehre über den Kanon der Heiligen Schrift.
[1] Briefe des Hochseligen Metropoliten Antonij (Chrapowizkij), Jordanville 1988, S. 168; vgl. dort auch S. 195, 201.
[2] Das Ermittlungsverfahren gegen Patriarch Tichon, Moskau 2000, S. 663–668.
[3] Erzbischof Nikon (Rklitskij), Lebensbeschreibung des seligen Antonij, Metropolit von Kiew und Galizien, Band VIII, 1961 New York, S. 21.









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