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Der Bote

Kritischer Ansatz zur Frage einer Kanonisierung des Patriarchen von Moskau, Sergij (Stragorodskij)

Im Nachgang der Moskauer wissenschaftlichen Konferenz zum 80. Todestag des Hierarchen

Grigorij Igorevich Trofimov, Heimatforscher aus Rostov am Don, erforscht die Biografien von Geistlichen, die in den Jahren der Verfolgung durch das gottlose Regime gelitten haben. Er ist Autor mehrerer historischer Artikel in der Zeitschrift „Posev“.

Er aber trug ihnen auf: Sehet zu,

hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer

und dem Sauerteig des Herodes.

Mk 8,15

Wie auf der offiziellen Website des Moskauer Patriarchats berichtet wurde[1], fand am 15. Mai 2024 im Pfarrhaus der Epiphanias-Kathedrale in Jelochow (Moskau) eine wissenschaftliche Konferenz mit dem Titel „Patriarch Sergij und sein geistliches Erbe“ statt (dieser Titel wiederholt den Namen des gleichnamigen Buches über Patriarch Sergij, das 1947 in Moskau veröffentlicht wurde). Einer der Organisatoren der Konferenz war die Russische Orthodoxe Universität des hl. Johannes des Theologen, die von Rektor Alexander Shhipkov geleitet wird. Während der Konferenz äußerte letzterer folgenden Wunsch:

Es ist notwendig, die Taten des Heiligsten Patriarchen Sergij als kirchlichen Würdenträger, der die Kirche in den Jahren der Verfolgung verteidigte, korrekt zu bewerten, seinen Bemühungen Anerkennung zu zollen und diese in den Geschichtsbüchern der Russischen Orthodoxen Kirche widerzuspiegeln. Es gilt, das uns aufgedrängte Konzept des ‚Sergianismus‘ zu verurteilen und die Wahrheit darüber zu berichten, wer, wo und mit welchen politischen Zielen dieses Konzept geschaffen und propagiert hat.“ (Hervorhebung von mir – G.T.)

Außerdem brachte A.V. Shhipkov erneut die Frage der Kanonisierung von Patriarch Sergij (Stragorodskj) auf, für die er sich bereits früher ausgesprochen hatte. Zum Beispiel hatte er 2016 erklärt:

Wir werden wahrscheinlich nie erfahren, was Patriarch Sergiij durchgemacht hat. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass er kanonisiert werden wird. Früher oder später, sei es heute, in fünf, zehn oder fünfzig Jahren, wird das wahre Ausmaß seiner Persönlichkeit und die kolossale Rolle, die er in der Geschichte der Russischen Kirche gespielt hat, erkannt werden.“ (Hervorhebung von mir – G.T.)

Außerdem nahm die Präsidentin der Russischen Akademie der Bildung, Olga Jur’evna Vasil’jeva, an der Konferenz teil. Sie hatte zuvor das Amt der Ministerin für Bildung der Russischen Föderation (2018–2020) inne. In ihrem Vortrag verglich die Ex-Ministerin das Wirken von Patriarch Sergij mit Märtyrertum. Olga Jur’evna hatte sich auch früher, als Mitglied der russischen Regierung, für die Kanonisierung des Hierarchen ausgesprochen: „Ich bin mir sicher, dass die Kanonisierung von Patriarch Sergij (Stragorodskij) geschehen wird.

Im Bericht von Metropolit Juvenalij (Pojarkov) von Kruticy und Kolomna, dem Vorsitzenden der Synodal-Kommission für die Kanonisierung der Heiligen, vorgelegt auf der Jubiläums-Bischofssynode der Russisch-Orthodoxen Kirche (13.-16. August 2000) in Moskau, in der Christ-Erlöser-Kathedrale, heißt es:

Es geht darum, dass Personen, welche Verhaftungen, Verhören und verschiedenen repressiven Maßnahmen ausgesetzt waren, sich nicht gleichartig in diesen Umständen verhielten. Die Haltung der repressiven Behörden gegenüber den Dienern der Kirche und den Gläubigen war eindeutig negativ und feindlich. Der Mensch wurde monströser Verbrechen beschuldigt, und das Ziel der Beschuldigung war einzig, durch alle Mittel ein Geständnis der Schuld an antistaatlicher oder kontrarevolutionärer Tätigkeit zu erzwingen. Die Mehrheit der Kleriker und Laien wies etwaige Beteiligung an solcher Tätigkeit zurück, anerkannte weder sich und ihre Angehörigen, noch ihnen bekannte und unbekannte Personen als schuldig für was auch immer. Ihr Verhalten während der Ermittlungen, die oft unter Anwendung von Folter durchgeführt wurden, war frei von jeglicher Verleumdung, von falschem Zeugnis wider sich selbst oder andere.

Die Mitglieder der Kommission fanden keine Grundlage für die Heiligsprechung von Personen, die während der Ermittlungen sich selbst oder andere belastet haben und somit Ursache für Verhaftung, Leiden oder Tod unschuldiger Menschen geworden sind dies ungeachtet dessen, dass sie selbst gelitten haben. Der Kleinglaube, den sie in solchen Umständen an den Tag legten, kann nicht ein Vorbild sein, denn Heiligsprechung ist ein Zeugnis für die Heiligkeit und den Mut des Asketen, zur Nachahmung dessen die Kirche Christi ihre Gläubigen aufruft.“ (Hervorhebung von mir – G.T.)

Das sind die Kriterien von Heiligkeit. Aber in den Jahren des stalinistischen Terrors in der UdSSR war das entgegengesetzte Phänomen weit verbreitet – die öffentliche Denunziation, als Genre politischer Publizistik. Ein markantes Beispiel und klassisches Beispiel für eine öffentliche Denunziation in den 1930er Jahren ist der Artikel des revolutionären Schriftstellers Aleksej Maksimovič Peshkov (Pseudonym Maxim Gorkij) mit dem Titel „Über literarische Spielereien“, veröffentlicht am 14. Juni 1934 in der Hauptzeitung des Zentralkomitees der All-Union Kommunistischen Partei (Bolschewiki) – „Pravda“, auf Vorschlag und im Auftrag ihres Chefredakteurs Lew Zakharovič Mekhlis. Der Artikel wurde von anderen sowjetischen Zentralzeitungen („Iswestija TsIK SSR und VTsIK“, „Literaturnaja Gazeta“ und „Literaturnyj Leningrad“) nachgedruckt. Maksim Gorkij, der gerade aus Italien zurückgekehrt war und sich in der UdSSR in privilegierter Stellung als „proletarischer Schriftsteller“ befand, wandte sich mit falschen Anschuldigungen gegen den talentierten kasachischen Dichter aus Sibirien, den 24-jährigen Pawel Nikolajewitsch Wassiljew, den er persönlich nicht einmal kannte, den er nie gesehen hatte.

Die sowjetische Macht umschmeichelte Gorkij, und so äußerte er sich über seinen jungen Kollegen im Schriftstellerberuf:

„Es wird geklagt, dass der Dichter Pawel Wassiljew schlimmere öffentliche Ärgernisse erregt, als es Sergej Jessenin je getan hat. Aber während einige den Rowdy tadeln, bewundern andere sein Talent, seine ‘weitherzige Natur’, seine ‘kampfkräftige Bäuerlichkeit’ usw. Aber die Tadelnden tun nichts, um ihre Umgebung von der Anwesenheit des Rowdys zu desinfizieren, obwohl klar ist, dass, wenn er tatsächlich ein ansteckendes Prinzip ist, er irgendwie isoliert werden sollte. Und die, die das Talent P. Wassiljews bewundern, unternehmen keinerlei Versuche, ihn umzuerziehen. Die klare Schlussfolgerung daraus ist: sowohl die einen, als auch die anderen sind gleichermaßen sozial passiv, und sowohl die einen, als auch die anderen sind gleichgültige “Zuschauer” solcher Verderbnis der literarischen Sitten, der Vergiftung der Jugend durch Rowdytum, obwohl der Übergang vom Rowdytum zum Faschismus ‘kürzer als ein Sperlingsschnabel’ ist.(Hervorhebung von mir – G.T.)

In der Wirklichkeit der stalinistischen UdSSR waren diese Worte Gorkijs gleichbedeutend mit der öffentlichen Erklärung von P.N. Wassiljew zum politischen Feind und einem Aufruf zu seiner Verhaftung, die bald darauf erfolgte, dann das KZ, dann eine neuerliche Verhaftung, und am 16. Juli 1937 wurde der Dichter im Keller des Moskauer Lefortowo-Gefängnisses nach von den NKWD-Behörden fabrizierten Anklagen erschossen. Nach Stalins Tod wurde Pavel Nikolajevič Vasil’jew am 20. Juni 1956 durch Beschluss des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR „wegen fehlender Straftat“ vollständig rehabilitiert.

Mit Beginn des Krieges verlor das Genre des öffentlichen Denunziantentums in der Sowjetunion keineswegs seine Aktualität

Mit Beginn des Krieges verlor das Genre des öffentlichen Denunziantentums in der Sowjetunion keineswegs seine Aktualität, mehr noch, es wurde nun aktiv auch innerhalb der kirchlichen Mauern angewendet. In der „Botschaft an die Kinder unserer orthodoxen russischen Kirche, die in Litauen, Lettland und Estland leben“, vom 22. September 1942, des Metropoliten Sergiij (Stragorodskij) heißt es:

„Umso schwerer fällt es einem auszusprechen, wie der Herr uns, die Kirchlichen, ‚demütigt‘ (2 Kor 12,21). Das Volk opfert sich für das Wohl des Vaterlandes, vergießt sein Blut und gibt das eigene Leben hin. Nicht nur bei uns, sondern auch in Serbien, Griechenland und überall, wo es nur wahrhaft lebendige Seelen gibt. In Riga indes erschienen Anfang August unsere orthodoxen Hierarchen (die Vikarbischöfe Iakov, Erzbischof von Jelgava, und Pavel, Bischof von Narva, sowie Daniil von Kauen) unter der Leitung des aus Moskau entsandten Metropoliten von Litauen Sergij Voskresenskij, die ‚nicht bereit waren, mit dem Volk Gottes zu leiden‘, sondern es vorzogen, ‚die vorübergehende Süße der Sünde zu genießen‘ (Hebr 11,25), wohlhabend zu leben und sich von den Krümeln vom Tisch der Faschisten zu ernähren (und wie lange werden die Faschisten noch unser Land besetzen?), während andere sich für das Vaterland opfern. Die Haare sträuben sich beim Lesen über die Folterungen durch die Faschisten an Frauen, Kindern und Verwundeten. Und Metropolit Sergij von Litauen sowie seine ‚Mitstreiter’ – die Hierarchen – senden Telegramme an Hitler, dass sie ‚begeistert sind von der heldenhaften Auseinandersetzung‘ (mit Wehrlosen?!) und ‚den Allmächtigen bitten, dass er (die faschistische) Waffe mit einem schnellen und vollständigen Sieg segne…‘. Solch unerwartete Wendung orthodoxer Hierarchen hin zum Faschismus ruft gewiss Erstaunen hervor.“ (Hervorhebung von mir – G.T.)

Der erwähnte Hierarch Sergij (Voskresenskij), Metropolit von Wilna und Litauen, wurde dann am 29. April 1944 von Unbekannten auf der einsamen Straße zwischen Wilna und Kauen erschossen. Seine im Sendschreiben genannten Vikare: Jakov (Karps), Erzbischof von Jelgava, und Pavel (Dmitrovskij), Bischof von Narva, starben friedlich 1943 und Anfang 1946. Der im Schreiben des M. Sergij (Stragorodskij) erwähnte Bischof von Kauen, Daniil (Juzv’juk), bekleidete nach dem Krieg eine Zeit lang das Amt des Erzbischofs von Pinsk, wurde jedoch 1950 von den MGB-Behörden verhaftet und verbrachte fünf Jahre im Lager von Ozerlag (Region Irkutsk). Kurz nach seiner Freilassung erblindete Bischof Daniil infolge der schweren Haftbedingungen.

Hauptvorwurf gegen Erzbischof Daniil war „antisowjetische Agitation“ während des Krieges und in der Nachkriegszeit. Wer hat zuerst öffentlich Erzbischof Daniel während des Krieges der „antisowjetischen Agitation“ beschuldigt? M. Sergij (Stragorodskij) in seiner oben zitierten Botschaft vom 22. September 1942. Trotz der acht Jahre, die seit der Veröffentlichung des Sendschreibens vergangen waren, konnten die sowjetischen Sicherheitsorgane solch schwere Vorwürfe nicht einfach „übersehen“, da sie öffentlich ausgesprochen worden waren. Somit wurde der verstorbene Patriarch Sergij zum ersten (sowohl chronologisch, als auch durch seine hohe Stellung) Ankläger von Erzbischof Daniil während der Ermittlungen im Jahr 1950, was schließlich zu einem harten Urteil gegen Letzteren führte: 25 Jahre Haft in einem Konzentrationslager (wo er bis nach Stalins Tod blieb und fünf Jahre abbüßte). Selbst wenn in der Ermittlungsakte von Erzbischof Daniil keine direkten Hinweise auf die acht Jahre alten Vorwürfe aus der Botschaft von Metropolit Sergius enthalten wären, war deren Inhalt doch sowohl den Mitarbeitern des MGB als auch den Angeklagten des Falls gut bekannt, lastete auf allen Beteiligten.

Sind etwa die Worte des Metropoliten Juvenalij (Pojarkov) aus dem Bericht an die Jubiläumssynode (2000) nicht auf diese Situation anwendbar: „Die Mitglieder der Kommission fanden keine Grundlage für die Heiligsprechung von Personen, die {…} andere verleumdeten und deren Verhaftung, Leiden oder Tod unschuldiger Menschen verursachten“? Im Fall von Erzbischof Daniil gab es sowohl eine Verleumdung (schwere öffentliche Beschuldigungen der „Hinwendung zum Faschismus“ von M. Sergij (Stragorodskij) im Jahr 1942) als auch in der Folge Verhaftung (1950) und Leiden (Haft im ostsibirischen KZ und damit einhergehender Verlust des Augenlichts).  Ist eine derartige öffentliche Verleumdung „besser“ als eine Verleumdung unter Folter? Ist der zitierte Beschluss der Synodal-Kommission (2000), im Lichte des Schicksals von Erzbischof Daniil, nicht anwendbar für die Person von Patriarch Sergij?

Es gibt darüber hinaus das Zeugnis eines aktiven Teilnehmers der Pskower Mission (1941–1944), des lettischen Priesters Nikolai Nikanorovič Trubeckoj (1907–1978), mit Verweis auf die Geständnisse eines ehemaligen Partisanen, der ihm in Haft von der Ermordung von M. Sergij (Voskresenskij) durch sowjetische Partisanen auf Befehl des NKGB erzählte. Dokumentarische Bestätigungen dieser Aussage gibt es bisher nicht, aber noch sind nicht alle Archive des NKGB veröffentlicht. Sollte der ehemalige Partisan den Priester nicht angelogen haben, dann stünde die Sache nicht zugunsten von M. Sergij (Stragorodskij), der als erster in der Botschaft vom 22. September 1942 seinen Mitbischof öffentlich der „Hinwendung zum Faschismus“ beschuldigte. Dann stellt sich die prinzipielle Frage: Haben die öffentlichen Worte des späteren Patriarchen Sergij (Stragorodsky) als gewichtiges Argument für die Entscheidung über die Ermordung des Exarchen im Baltikum gedient oder nicht? Während des Krieges galt jeder Bürger der Sowjetunion, den der sowjetische Staat als „zum Faschismus gewandt“ ansah, als legales Ziel und konnte ohne Gericht „nach den Gesetzen der Kriegszeit“ liquidiert werden. Zumal es sich um einen bedeutenden religiösen Führer handelte, den die Beamten des Rates für die Angelegenheiten der Russischen Orthodoxen Kirche beim Rat der Volkskommissare der UdSSR bereits 1943 in geheimen Korrespondenzen als „von der Kirche exkommunizierten Vaterlandsverräter“ bezeichneten.

Während des Krieges galt jeder Bürger der Sowjetunion, den der sowjetische Staat als „zum Faschismus gewandt“ ansah, als legales Ziel und konnte ohne Gericht „nach den Gesetzen der Kriegszeit“ liquidiert werden.

Ein Gemeindemitglied des Baltischen Exarchats, Andrej Vladimirovič Gerič (1919–2014), der bis 1944 in Lettland lebte, ist ebenfalls von der sowjetischen Beteiligung an der Ermordung des M. Sergij (Voskresenskij) überzeugt. Die Entscheidung zur Beseitigung des Metropoliten konnte auch auf der unteren Ebene, zum Beispiel durch lokale sowjetische Partisanen und Untergrundkämpfer, die in der Zeit der Besatzung in der baltischen Region aktiv waren, getroffen worden sein, unter denen die Botschaft des M. Sergij (Stragorodskij) vom 22. September 1942 verbreitet wurde.

Solange der Mord am Metropoliten von Wilna und Litauen Sergij (Voskresenskij) nicht aufgeklärt und objektiv untersucht ist (der Befund der 2. Abteilung des NKGB der UdSSR selbst, über die Schuld der deutschen Besatzungsbehörden an der Ermordung des Hierarchen, der auf Aussagen des abtrünnigen Archimandriten Filipp (Morozov) basiert, kann nicht bedenkenlos akzeptiert, und erst recht nicht als „unvoreingenommen“ gelten…), ist es nicht möglich zu beurteilen, wie gravierend die Folgen der öffentlichen Anklage des Metropoliten Sergij (Stragorodskij) gewesen sein können, da die Wahrscheinlichkeit besteht, dass gerade seine öffentlichen Worte entscheidend waren für das Schicksal des Exarchen des Baltikums. Etwas mehr als zwei Wochen nach der Erschießung von M. Sergij (Voskresenskij) starb in Moskau am 15. Mai 1944 Patriarch Sergij laut offizieller Angabe an einer Gehirnblutung. Der Kirchenhistoriker und Professor Vasilij Ivan. Aleksejev (1906–2002) war der Meinung, dass sich die Nachricht von der Ermordung des Exarchen des Baltikums, der ihm einst sehr nahestand, auf den Patriarchen Sergij ausgewirkt habe…

Nach der Befreiung von Rostov am Don durch die Truppen der Südfront der Roten Armee im Februar 1943, verfasste M. Sergij (Stragorodskij) am 20. März 1943 eine „Botschaft an die orthodoxe Gemeinde von Rostov am Don und der Rostover Diözese“. In diesem Sendschreiben finden sich erneut öffentliche falsche Anschuldigungen gegen russische Hierarchen und Geistliche:

„In Rostow wurde eine Diözesanverwaltung eröffnet, und zu unserem Bedauern fanden sich geistliche Personen — Vjačeslav Serikov, Ivan Nagovskij — die bereit waren, in dieser Diözesanverwaltung auf Anweisung der Deutschen zu arbeiten. Als Leiter der Diözese wurde von irgendwo der frühere Rostover Erzbischof Nikolaj (Amasijskij) hergeholt, der 1935 von uns aus der Leitung der Rostover Diözese entfernt worden war. Der arme alte Mann war sich vermutlich seiner Handlungen nicht ganz bewusst, aber gerade deshalb war er für die theatralische Leitungsrolle umso geeigneter. Den deutsch-eingesetzten Strohmännern, welche die Verwaltung der Rostover Diözese übernommen hatten, konnte die völlige Unrechtmäßigkeit ihrer Position unmöglich unklar gewesen sein, auch Erzbischof Nikolaj durfte nach kirchlichen Regeln ohne den Segen des Moskauer Patriarchats nicht in die Diözese und die von ihnen gegründete Diözesanverwaltung eindringen; die Handlungen und Anordnungen dieser Verwaltung hatten für niemanden verbindliche Kraft. Darüber hinaus mussten die Gründer und Teilnehmer mit dem strengem Urteil des Moskauer Patriarchats rechnen. Und nun, um sich dem Urteil zu entziehen, fügen sie einem Unrecht ein weiteres, noch schwerwiegenderes hinzu. Wahrscheinlich auf dieselbe deutsche Anweisung hin wandten sie sich an den rumänischen Patriarchen mit der Bitte, die Rostover Diözese in seine Zuständigkeit aufzunehmen. Unklar ist, was der Patriarch geantwortet hat, aber was immer seine Antwort gewesen sein mag, sie kann die Gesetzlosen nicht vom Urteil befreien. Dennoch konnten die deutschen Usurpatoren in Rostov nur so lange bleiben, wie die Deutschen dort waren; als die Deutschen flohen, flohen auch ihre Helfershelfer.

Und sollen sie doch gemeinsam ihrem ruhmlosen Ende entgegenlaufen! Die orthodoxe Gemeinde von Rostov interessiert sich nicht für diese Räuber in Kutten, und je schneller sie den letzten Staub abschüttelt, der ihr durch den aufgezwungenen Kontakt mit diesen Leuten anhaftet, desto heilbringender wird es für sie sein.“ (Hervorhebung von mir – G.T.)

Die Entstehung der Rostover Diözesanverwaltung im August 1942, nach dem Beginn der zweiten Besetzung Rostows durch die deutschen Truppen und ihre Verbündeten, entspricht den Bedingungen der Punkte 2–4 des Erlasses des Heiligen Patriarchen Tikhon (Belavin), des Heiligen Synods und des Obersten Kirchenrates der Orthodoxen Russischen Kirche vom 7./20. November 1920 Nr. 362:

2) Falls eine Diözese in Folge von Verschiebung der Front, Änderung der Staatsgrenze und ähnlichem jegliche Verbindung zur Obersten Kirchlichen Verwaltung verliert, oder wenn die Oberste Kirchliche Verwaltung mit dem Allerheiligsten Patriarchen an der Spitze aus irgend einem Grunde selbst ihre Tätigkeit einstellt, hat sich der Diözesanbischof unverzüglich mit den Bischöfen der Nachbardiözesen in Verbindung zu setzen zu dem Zweck, für mehrere Diözesen, die sich in gleicher Lage befinden, eine oberste kirchliche Verwaltungsinstanz zu schaffen (sei es in Form einer obersten provisorischen Kirchenleitung, eines Metropolitanbezirkes oder auf andere Weise.

3) Für die Bildung einer Obersten Kirchenleitung für eine ganze Gruppe von Diözesen Sorge zu tragen, bei den sich die in Punkt 2 beschriebenen Verhältnisse eingestellt haben, ist unabdingbare Pflicht des in dieser Gruppe rangältesten Bischofs.

4) Sollte es sich als unmöglich erweisen, zu den Bischöfen der Nachbardiözesen Verbindung aufzunehmen, hat der Diözesanbischof bis zur Schaffung einer obersten kirchlichen Verwaltungsinstanz alle Macht auf sich zu nehmen, die ihm durch die kirchlichen Kanones gegeben ist, und alle Maßnahmen zur Regelung des örtlichen kirchlichen Lebens, und wenn diese notwendig erscheint, zur Bildung eines Diözesanordinariats entsprechend den örtlichen Gegebenheiten zu treffen, indem er alle Fragen, die nach den Kanones bischöflicher Gewalt unterliegen, mit Unterstützung noch bestehender Organe der Verwaltung seiner Diözese (Diözesankongress, Diözesanrat und andere) selbst entscheidet, im Falle jedoch, dass es unmöglich ist, die erwähnten Gremien zu bilden – auch allein auf eigene Verantwortung.“ (Hervorhebung von mir – G.T.)

Im Juli – August 1942 waren für die Rostover Diözese zwei Bedingungen aus Punkt 2 des Erlasses vom 7./20. November 1920 Nr. 362 gleichzeitig zutreffend:

– „Frontverschiebung“ – die Südfront der Roten Armee wurde im Juli 1942 aufgelöst, und ihre Reste wurden an die Nordkaukasische Front übergeben, die Hunderte Kilometer südlicher als die Verwaltungsgrenze der Region Rostov zurückgewichen war, welche unter der Besatzung der deutschen Truppen und ihrer Verbündeten stand, was jede Möglichkeit eines „jeglichen Kontakts mit der Obersten Kirchenverwaltung“ ausschloss;

– Wenn die „Oberste Kirchenverwaltung unter der Leitung des Heiligsten Patriarchen ihre Tätigkeit einstellt“ – bereits im Mai 1935 war durch Druck der sowjetischen Regierung das höchste Verwaltungsorgan der Russischen Orthodoxen Kirche, der provisorische Heiligste Synod unter dem stellvertretenden Patriarchatsverweser, dem Metropoliten von Moskau und Kolomna Sergij (Stragorodskij), aufgelöst worden, und Vladyka Sergij selbst befand sich seit Oktober 1941 faktisch in Isolation in der Stadt Uljanovsk (Simbirsk), was es ihm unmöglich machte, seine Tätigkeit als Ersthierarch vollwertig auszuüben.

❝ Im Juli – August 1942 waren für die Rostover Diözese zwei Bedingungen aus Punkt 2 des Erlasses vom 7./20. November 1920 Nr. 362 gleichzeitig zutreffend.

Hinzu kommt: Bis 1936 hatten die sowjetischen Behörden faktisch alle kanonischen kirchlichen Verwaltungsstrukturen im Gebiet der Rostover Diözese vollständig aufgelöst. Bis 1941 war nur noch eine einzige Kirche in der Diözese staatlich registriert - alle anderen waren von den Machthabern geschlossen worden.

Somit war der Diözesanbischof von Rostov im Juli 1942 verpflichtet (als der Rangälteste), sich „mit den Bischöfen der Nachbardiözesen in Verbindung zu setzen zu dem Zweck, für mehrere Diözesen, die sich in gleicher Lage befinden, eine oberste kirchliche Verwaltungsinstanz zu schaffen“, was im September 1942 vom Rostover Erzbischof Nikolai (Amasijskij) ausgeführt wurde. Dieser nahm die Leitung der Rostover Diözesanverwaltung auf sich und trat in Kontakt mit Bischof Iosif (Tschernow), der das Taganrog-Vikariat leitete. Später, Ende 1942, traten beide Bischöfe in die kanonische Ukrainische Autonome Kirche des Moskauer Patriarchats ein, die vom Exarchen der Ukraine, Alexij (Gromadskij) (1882–1943), Metropolit von Volhynien und Zhytomyr, geleitet wurde. Erzbischof Alexis war ein Verfechter der kirchlichen Einheit und des kanonischen Rechts und starb am 7. Mai 1943 als Märtyrer durch die Hand von Kämpfern der „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN, Melnikov), Unterstützer der schismatischen „Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche“ und ihres Oberhauptes Polikarp (Sikorskij), im Dorf Smyga in Volhynien.

Gemäß Punkt 3 des Erlasses vom 7./20. November 1920 Nr. 362 war im September 1942 der älteste nach Rang in der Rostover Diözese der Erzbischof Nikolai, weshalb er die Leitung der wiederhergestellten Rostover Diözesanverwaltung übernahm und sich um die Organisation der kirchlichen Autorität in seinem Diözesangebiet kümmerte.

Punkt 4 des Erlasses vom 7./20. November 1920 Nr. 362 verpflichtet ausdrücklich den Diözesanbischof, „alle Macht auf sich zu nehmen, die ihm durch die kirchlichen Kanones gegeben ist, und alle Maßnahmen zur Regelung des örtlichen kirchlichen Lebens […] zu treffen“, was der Erzbischof Nikolai im September 1942 tat, als er die wiederhergestellte Rostover Diözesanverwaltung übernahm.

In seinem Sendschreiben vom 20. März 1943 schreibt M. Sergij (Stragorodskij):

„Als Leiter der Diözese wurde von irgendwo der frühere Rostover Erzbischof Nikolaj (Amasijskij) hergeholt, der 1935 von uns aus der Leitung der Rostover Diözese entfernt worden war. (Hervorhebung von mir – G.T.)

Erzbischof Nikolaj verwaltete die Rostover Diözese vor dem Krieg vom 30. November 1931 bis 23. Mai 1935, dann wurde er von den NKWD-Behörden mit gefälschter Anklage der „Teilnahme an einer konterrevolutionären Gruppe“ verhaftet. Vor der Verhaftung, im Jahr 1934, war Erzbischof Nikolaj zum Erzbischof von Rostov erhoben worden. Am 16. November 1935 wurde er zu 3 Jahren administrativer Verbannung nach Baschkirien verurteilt und deportiert. Erst im Jahr 1936 wurde Erzbischof Nikolaj von Rostow formal in den Ruhestand versetzt, was sachlich eine Formalität war und aus kirchenrechtlicher Sicht lediglich den tatsächlichen Zustand (Fehlen eines in die Verbannung geschickten Erzbischofs auf seiner Kathedra) legitimierte. Nach der Erschießung des letzten vor dem Krieg ins Amt eingesetzten Rostover Diözesanbischofs – Erzbischof Dionysij (Prozorovskij) – dem es zeitlich nicht einmal gelungen war, die Diözese zu übernehmen, war Erzbischof Nikolaj, obwohl gezwungenermaßen (wegen der Verbannung) in den Ruhestand versetzt, zu dieser Zeit der einzige lebende kanonische Hierarch, der die Rostover Kathedra innehatte.

Außerdem war die Entscheidung von Metropolit Sergij (Stragorodskij), im Jahr 1936, einen bereits in Verbannung befindlichen Erzbischof von Rostow und Taganrog Nikolaj „in den Ruhestand“ zu versetzen, faktisch von den repressiven Maßnahmen der sowjetischen Sicherheitsorgane (NKWD) gegen diesen Hierarchen diktiert und aus kanonischer Sicht keineswegs einwandfrei. Nach der 34. Apostolischen Regel:

„Die Bischöfe jedes Volkes sollen wissen, dass einer von ihnen der Erste (Primus) sein müsse, und sollen ihn als ihr Haupt ansehen und weiter nichts ohne seine Zustimmung tun; nur das allein soll jeder tun, was auf seine eigene Gemeinde und die ihr untergeordneten Orte Bezug hat. Aber auch jener (der Primus, der Metropolit) darf nichts ohne die Zustimmung aller tun; denn so wird Eintracht herrschen und Gott verherrlicht werden durch Christus im Heiligen Geist.“ (Hervorhebung von mir – G.T.)

So kommentiert der kirchliche Gelehrte und Kanonist, der Bekennerbischof Nikodim (Milaš), die 34. Apostolische Regel:

„Die Regel spricht vom ersten Bischof in Bezug auf die ihm unterstellten Bischöfe, und wie diese letzteren nichts Wichtigeres und ihre Macht Übersteigendes ohne das Wissen dieses ersten Bischofs unternehmen dürfen, so schreibt die Regel genau auch dem ersten Bischof vor, nichts ohne das Wissen der anderen Bischöfe zu tun, was seine Macht als erster Bischof übersteigt, nämlich nichts zu tun und keine Vorschriften zu erlassen, die die gesamte regionale Kirche betreffen, folglich sowohl seine eigene Diözese als auch die Diözesen der ihm unterstellten Bischöfe. Dies sind Fragen, die in den Zuständigkeitsbereich des Metropolitankonzils fallen und sich auf kanonische, evangelische und gerichtliche Angelegenheiten beziehen, wie sie auf den ökumenischen und regionalen Konzilien bestätigt wurden.“ (Hervorhebung von mir – G.T.)

Da sich der provisorische Geheiligte Patriarchalsynod unter dem Stellvertreter des Patriarchatsverwesers, dem Metropoliten von Moskau und Kolomna, Sergij (Stragorodskij), unter dem Druck der sowjetischen Regierung bereits im Mai 1935 aufgelöst hatte, entspricht die alleinige Entscheidung des M. Sergius, den Erzbischof von Rostow, Nikolai, im Jahr 1936 in den Ruhestand zu versetzen, ohne dass ein „Metropolitankonzil“ stattgefunden hat, nicht den Bestimmungen der 34. Apostolischen Regel. Zudem hat Erzbischof Nikolaj kein Gesuch an Metropolit Sergij (Stragorodskij) geschrieben, in dem er um seine Versetzung in den Ruhestand gebeten hätte. Das kanonische Recht sieht grundsätzlich keine Ruhestandsregelung für einen amtierenden Bischof „aus Altersgründen“ vor, erst recht nicht ohne sein persönliches Gesuch dazu.

Das kanonische Recht sieht grundsätzlich keine Ruhestandsregelung für einen amtierenden Bischof „aus Altersgründen“ vor, erst recht nicht ohne sein persönliches Gesuch dazu.

Darüber hinaus wurde auf dem Konzil von Konstantinopel (Primasecunda-Synode, bzw. Protodeutera) im Jahr 861 die 16. Regel angenommen:

„Aufgrund von Streitigkeiten und Unruhen, die in der Kirche Gottes vorkommen, muss auch Folgendes bestimmt werden: Es darf keinesfalls ein Bischof in jener Kirche eingesetzt werden, deren Vorsteher noch lebt und in seinem Amt verbleibt, es sei denn, er verzichtet freiwillig auf das Bischofsamt. Denn es ist notwendig, zuerst eine rechtmäßige Untersuchung des Vergehens abzuschließen, für das er seines Amtes enthoben werden soll, und erst nach seiner Absetzung einen anderen in das Bischofsamt einzusetzen, um ihn zu ersetzen. Wenn jedoch ein Bischof, während er in seinem Amt bleibt, nicht verzichten will und nicht bereit ist, sein Volk zu weiden, sondern sich aus seiner Diözese zurückzieht und sich mehr als sechs Monate an einem anderen Ort aufhält, ohne durch einen kaiserlichen Befehl oder die Erfüllung von Aufträgen seines Patriarchen aufgehalten zu werden, noch durch eine schwere Krankheit, die ihn völlig unbeweglich macht, so soll ein solcher Bischof, der durch keine der genannten Ursachen behindert wird, aber seine Diözese verlässt und sich an einem anderen Ort länger als sechs Monate aufhält, vollständig seiner bischöflichen Würde und seines Amtes enthoben werden. Denn für einen Hirten, der seine ihm anvertraute Herde vernachlässigt und mehr als sechs Monate an einem anderen Ort verweilt, hat das heilige Konzil entschieden, dass er seine Bischofswürde und das Amt, in das er berufen wurde, verlieren und stattdessen ein anderer auf sein Bischofsamt erhoben werden soll.“ (Hervorhebung von mir – G.T.)

Der Bischof-Kanonist Nikodim (Milaš) interpretiert die 16. Regel der Primasecunda-Synode folgendermaßen:

Diese Regel betrifft zwei kanonische Fragen: den Verzicht eines Bischofs auf seinen Sitz und die Dauer der Abwesenheit eines Bischofs aus seiner Diözese. In Bezug auf die erste Frage schreibt diese Regel vor, dass kein neuer Bischof in eine Diözese berufen werden darf, solange der Bischof dieser Diözese lebt und in seinem Amt verbleibt (έν τη ιδία συνίσταται τιμή). Ein neuer Bischof darf auch dann nicht ernannt werden, wenn der rechtmäßige Bischof freiwillig auf seine Diözese verzichtet (εί μή αυτός εκών τήν έπισκοπήν παραιτήσεται); in einem solchen Fall müssen zuerst die Gründe, die den Bischof dazu veranlasst haben, seinen Sitz aufzugeben, auf kanonischem (κανονικώς) Wege geprüft werden. Erst wenn vor einem zuständigen Konzil von Bischöfen oder einer Synode bewiesen ist, dass er in irgendeiner Weise schuldig ist, und wenn er abgesetzt wurde (μετά τήν αυτοΰ καθαίρεσιν), kann ein anderer Bischof an seine Stelle gesetzt werden. Mit anderen Worten: Ein bischöflicher Sitz gilt nur dann als frei, wenn der Bischof gestorben ist oder wenn er von einem Bischofskonzil abgesetzt wurde. Durch einfachen freiwilligen Verzicht eines Bischofs auf seinen Sitz wird dieser nicht frei; dies ist nur dann der Fall, wenn auf einer örtlichen Synode die Schuld des Bischofs bewiesen wird und er deshalb abgesetzt und der bischöflichen Würde beraubt wird. (Hervorhebung von mir – G.T.)

Dementsprechend blieb gemäß der 16. Regel der Primasecunda-Synode Erzbischof Nikolaj amtierender Oberhirte der Diözese Rostov und Taganrog, selbst nach seiner Verhaftung durch das NKWD im Mai 1935, nach seiner Verbannung nach Baschkirien und nach der einseitigen Entscheidung von Metropolit Sergij (Stragorodskij) im Jahr 1936 über seine „Versetzung in den Ruhestand“. Auch nach der Besetzung des Diözesangebietes durch deutsche Truppen im Juli 1942 war er im Amt.

Übrigens wurde die 16. Regel der Primasecunda-Synode von der Kirche verabschiedet, um Einmischung weltlicher Autoritäten in die kirchliche Personalpolitik zu verhindern. Der bischöfliche Sitz „verwitwet“ nicht, solange der Bischof, der mit ihm verbunden ist, lebt und nicht seiner bischöflichen Würde verlustig ist. Metropolit Sergij (Stragorodskij) hat diese Regel ständig verletzt, wie beispielsweise im Fall des Erzbischofs von Rostov, Nikolaj, im Jahr 1936 oder im Fall des Metropoliten von Petrograd, Iosif (Petrovykh), im Jahr 1927. Kann eine solche Missachtung kirchlicher Kanones als Kriterium für Heiligkeit angesehen werden?

❝ Die 16. Regel der Primasecunda-Synode von der Kirche verabschiedet, um Einmischung weltlicher Autoritäten in die kirchliche Personalpolitik zu verhindern. Der bischöfliche Sitz „verwitwet“ nicht, solange der Bischof, der mit ihm verbunden ist, lebt und nicht seiner bischöflichen Würde verlustig ist.

Die Anklage von M. Sergij (Stragorodskij) gegen Erzbischof Nikolaj wegen theatralischer „scheinbarer Leitung“ der Diözese Rostov entspricht ebenfalls nicht der Wahrheit. Nach dem Zeugnis des Bischofs von Taganrog, Iosif (Tshernov), hatte Erzbischof Nikolaj Konflikte mit den deutschen Besatzungsbehörden:

Im August 1943 ­… verließ ich Taganrog und war nach einigen Stunden in Mariupol. In Mariupol hatte ich zwei Treffen mit Erzbischof Nikolaj (Amasijskij), während derer wir über kirchliche Angelegenheiten sprachen. Erzbischof Nikolaj berichtete mir von seinem kirchlichen Dienst und davon, wie er zweimal von der Gestapo vorgeladen wurde, weil er sich gegen die Deutschen ausgesprochen hatte.“ (Hervorhebung von mir – G.T.)

In der Botschaft von M. Sergij (Stragorodskij) an die Rostover Gemeinde heißt es:

Wahrscheinlich auf dieselbe deutsche Anweisung hin wandten sie sich an den rumänischen Patriarchen mit der Bitte, die Rostover Diözese in seine Zuständigkeit aufzunehmen. Unklar ist, was der Patriarch geantwortet hat, aber was immer seine Antwort gewesen sein mag, sie kann die Gesetzlosen nicht vom Urteil befreien.“ (Hervorhebung von mir – G.T.)

Erzbischof Nikolaj stand in Korrespondenz mit dem Patriarchen der Rumänischen Orthodoxen Kirche, Nikodim (Munteanu), einem Absolventen der Kiewer Theologischen Akademie (1885). Doch inwieweit ist die Behauptung wahr, dass er angeblich den Patriarchen bat, „die Rostover Diözese in seine Zuständigkeit aufzunehmen“, wie M. Sergij behauptet? Wo sind die Beweise für solche Verhandlungen? Wenn eine solche Anfrage tatsächlich stattgefunden hätte, wäre sie in den vergangenen 70 Jahren bekannt geworden. Bis heute gibt es jedoch in der wissenschaftlichen Literatur kein einziges Dokument oder Zeugnis, das die Worte von M. Sergij (Stragorodski) über Erzbischof Nikolajs angebliche „Bitte an den rumänischen Patriarchen, die Rostover Diözese in seine Zuständigkeit aufzunehmen“ bestätigt.

Zum Beispiel wurde der Vikarbischof der Rostover Diözese, Iosif (Tshernow), der gleichzeitig mit Erzbischof Nikolaj während der Besatzung des Rostover Gebiets diente, im Juni 1944 verhaftet und im Februar 1946 zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Die Untersuchung dauerte etwa zwei Jahre, und Metropolit Iosif, der mit den Ermittlern des NKGB zusammenarbeitete, erwähnte in dieser Zeit nie Verhandlungen über einen Übertritt der Rostover Diözese in die Jurisdiktion des rumänischen Patriarchen. Das einzige Ergebnis der Korrespondenz von Erzbischof Nikolaj mit Patriarch Nikodim war - laut Metropolit Iosif - die Ausstellung rumänischer Dokumente (Pässe) für den Rostover Bischof und seine engsten Mitarbeiter der Diözesanverwaltung, um die Bewegungen während der Kriegszeit durch militärische Kontrollpunkte im besetzten Gebiet der Diözese zu erleichtern. Wieder eine falsche öffentliche Anschuldigung eines russischen Bischofs aus dem Mund des künftigen Patriarchen Sergij? Ist das nicht falsches Zeugnis?

Der Erzbischof Nikolaj (Amasijskij) (1859–1945) und einer seiner engsten Mitarbeiter – Erzpriester Ioann Nagovskij (1878–1956), die beide vom Metropoliten Sergij (Stragorodskij) im Hirtenbrief an die Gemeinde von Rostow am 20. März 1943 erwähnt wurden, emigrierten ins Ausland und starben dort friedlich, jeder zu seiner Zeit. Der dritte Geistliche der Diözese Rostov, der ebenfalls öffentlichen Anschuldigungen des künftigen Patriarchen Sergij ausgesetzt war, der Stadtdekan von Rostov am Don, Erzpriester Vjačeslav Aleksejevič Serikov (1888–1953), lehnte jedoch die Emigration ab (sein Schwiegersohn kämpfte an der Front in den Reihen der Roten Armee) und blieb im Jahr 1944 als Vorsteher der Kyrill-und-Methodios-Kirche in Odessa tätig. Einen Monat nach dem Einzug der Roten Armee in Odessa, am 29. Mai 1944, wurde Vater Serikov von den Organen des UNKGB der Oblast Rostov „wegen Vaterlandsverrats und Durchführung antisowjetischer Agitation“ verhaftet und nach Rostow am Don überstellt. Die Ermittlungen dauerten etwa ein Jahr. Durch Beschluss der Sonderkonferenz beim NKWD der UdSSR vom 17. März 1945 wurde Erzpriester Vjačeslav Serikov nach den Artikeln 58-1 „a“ und 58-10 des Strafgesetzbuches der RSFSR zu zehn Jahren Haft in einem Arbeitslager verurteilt. Die Strafe musste Vater Vjačeslav in der Haft im Norden des Ural, im Usollag (Einrichtung AM-244(66), Stadt Solikamsk, Oblast Molotow), an der Station „Seljanka“ verbüßen. Unter den harten Bedingungen erlebte Erzpriester Vjačeslav Serikov seine Freilassung nicht mehr und starb am 20. Mai 1953 in der Haft. Nach der Überprüfung der Materialien des Strafverfahrens Nr. P-54273 wegen des Vorwurfs des „Vaterlandsverrats“ erklärte die Staatsanwaltschaft der Oblast Rostov am 18. Juni 1993 Vater Vjačeslav Serikov für rehabilitiert.

Metropolit Sergij (Stragorodskij) sparte in seinem Hirtenbrief an die Gemeinde von Rostow nicht mit Anschuldigungen gegen Vater Vjačeslav, indem er ihn (neben Erzbischof Nikolaj und Erzpriester Ioann Nagovskij) als „deutschen Günstling“ und „Räuber in Soutane“ bezeichnete, der „mit Hilfe der Deutschen die Leitung der Diözese Rostow an sich gerissen“ habe.

Metropolit Sergij (Stragorodskij) sparte in seinem Hirtenbrief an die Gemeinde von Rostow nicht mit Anschuldigungen gegen Vater Vjačeslav, indem er ihn (neben Erzbischof Nikolaj und Erzpriester Ioann Nagovskij) als „deutschen Günstling“ und „Räuber in Soutane“ bezeichnete, der „mit Hilfe der Deutschen die Leitung der Diözese Rostow an sich gerissen“ habe. Doch erhielt Erzpriester V.A. Serikov die schriftliche Erlaubnis und den bischöflichen Segen, Gottesdienste in den Kirchen von Rostov am Don zu zelebrieren und die Pflichten des Stadtdekans zu erfüllen, vom zurückgekehrten Weihbischof der Diözese Rostov und Taganrog Iosif (Tshernov), der am 8. August 1942 in sein Amt in Taganrog zurückgekehrt war und der letzte kanonische Bischof war, der die Diözese vor dem Krieg (Mai – Dezember 1935) geleitet hatte. Metropolit Sergij (Stragorodskij) schweigt jedoch über diese Tatsache, ebenso wie er über die Rolle von Bischof Iosif schweigt und seinen Namen in seinem Hirtenbrief nicht einmal erwähnt.

Somit hatten im Fall von Vater Vjačeslav Serikov, ebenso wie im Fall von Bischof Daniil (Juzv’juk), sowohl öffentliche falsche Anschuldigungen (seitens Metropolit Sergij (Stragorodskij) am 20. März 1943), als auch eine Verhaftung (1944) und Leiden stattgefunden (ein Jahr im Untersuchungsgefängnis des NKGB und acht Jahre Haft im Nord-Ural-Lager). Während Bischof Daniil doch noch seine Freilassung aus der Haft erlebte, obwohl er danach vollständig sein Augenlicht verlor, starb Erzpriester Vjačeslav Serikov im Gefängnis, ohne je in die Freiheit entlassen zu werden. Dabei wurde der Taganroger Bischof Iosif, der den NKGB-Ermittlern die wichtigsten belastenden Aussagen gegen Vater Vjačeslav gab, selbst erst am 14. Juni 1944 verhaftet, also zwei Wochen nach der Verhaftung von Erzpriester Serikov. Dies beweist einmal mehr, dass die sowjetischen Sicherheitsorgane die öffentlichen schweren und falschen Anschuldigungen gegen Vjačeslav Serikov seitens Metropolit Sergij (Stragorodskij) in seiner Botschaft an die Rostover Gemeinde vom 20. März 1943 zur Kenntnis genommen hatten und bei erster Gelegenheit (nur einen Monat nach der Befreiung von Odessa durch die Rote Armee im April 1944) den Priester verhafteten und mit erfundenen Anklagen repressierten.

Neben der Entscheidung der Staatsanwaltschaft der Region Rostov über die Rehabilitierung von Erzpriester Vjačeslav Serikov, blieb ein Brief des Vaters aus dem Lager an seine Familie zu Hause erhalten, dessen Inhalt die Anschuldigungen von Metropolit Sergij (Stragorodskij) gegen den Priester widerlegt:

Hallo, meine lieben Verwandten! Zuerst möchte ich euch zum siegreichen Ende des Krieges und zur vollständigen Vernichtung des Faschismus gratulieren, sowie zu den vergangenen Feiertagen der lichtstrahlenden Auferstehung Christi. Von Herzen wünsche ich mir das Aufkommen des absoluten Friedens in der ganzen Welt, der brüderlichen Vereinigung und des Aufblühens unseres Landes nach den erlittenen Kriegsleiden. Ich befinde mich in der Nähe der Stadt Solikamsk, Region Molotov, die Adresse steht auf der Rückseite, man kann ‚Seljanka‘ hinzufügen. Schreibt mir öfter und mehr, teilt mir ungeduldig das Schicksal von Mitya und Serafim Petrovič mit, waren sie wirklich dort und sind gestorben? Ich will nicht glauben, dass sie in voller Blüte ihrer Kräfte gestorben sind. Solche großartigen Helden…

…was ihr möglich findet, in erster Linie ein Stück Waschseife, Pappe, einen Bleistift, Briefpapier, keine Wäsche, Lebensmittel nach eigenem Ermessen; ich hätte gerne ein wenig Tee. Pakete werden gemäß dem Rundschreiben des GULAG – NKGB der UdSSR Nr. 42/731 vom 10.10.1944 angenommen.“ (Hervorhebung von mir – G.T.)

Darüber hinaus gibt es das Zeugnis über Vater Vjačeslav Serikov, eines Frontkämpfers, Vadim Mikhailovič Shavrov (1924–1983), eines Garde-Stabsbootsmanns erster Klasse. V.M. Shavrov ging im November 1941 als Freiwilliger an die Front, indem er sich um zwei Jahre älter machte. Er wurde mit dem Orden des Ruhms III. Klasse und sechs Medaillen ausgezeichnet, dreimal verwundet und nach dem Krieg Student des MGIMO, Kirchenhistoriker, Schriftsteller und Publizist, Fotograf der Zeitschrift des Moskauer Patriarchats, Absolvent des Odessaer Priesterseminars (1956), Hypodiakon. 1948 wurde V.M. Shavrov von den MGB-Organen nach einem politischen Artikel verhaftet und verbüßte seine Haftstrafe im Usol-Lager zusammen mit Vater Vjačeslav Serikov. Am 21. September 1954 wurde er entlassen und rehabilitiert. In seinem Artikel "Mein Weg zum Glauben", der im kirchlichen „Samisdat“ (Selbstverlag) Verbreitung fand, schreibt er über Vater Vjačeslav folgendes:

Hier in der Gefangenschaft fand ich gute, reine Menschen, die meinen Glauben stärkten. Hier möchte ich, vor allem, den guten alten Priester Vater Vjačeslav Serikov erwähnen. Dieser von grauem Haar gezeichnete Greis erstaunte und bezauberte mich durch seine außergewöhnliche Güte und Herzlichkeit im Umgang mit allen um ihn herum: sogar die ‚Krummen‘ (Berufsverbrecher) hatten Ehrfurcht, achteten und liebten ihn. Als der gütige Vr. Vjačeslav starb, trauerten auch sie aufrichtig, auf ihre Weise, und beklagten seinen Tod.“ (Hervorhebung von mir – G.T.)

Die Rhetorik der zitierten öffentlichen Anschuldigungen von M. Sergij (Stragorodskij) gegen seine Mitbrüder, Bischöfe und Geistliche während des Krieges erinnert an den Text seiner Erklärung vom 29. Juli 1927, in der ebenfalls öffentliche Anschuldigungen gegen die russische Geistlichkeit enthalten sind. Zum Beispiel:

Die Behauptung der Sowjetmacht erschien vielen als ein Missverständnis, als zufällig und daher kurzlebig. Man vergaß, dass es für einen Christen keine Zufälle gibt und dass in allem, was bei uns geschieht, wie überall und immer, dieselbe Hand Gottes am Werk ist, die jedes Volk unaufhaltsam zu dem ihm bestimmten Ziel führt. Solchen Menschen, die nicht bereit sind, die ‚Zeichen der Zeit‘ zu erkennen, mag es scheinen, dass man nicht mit dem früheren Regime und sogar mit der Monarchie brechen könne, ohne mit dem Orthodoxen Glauben zu brechen. Diese Stimmung in bestimmten kirchlichen Kreisen, die sich natürlich sowohl in Worten als auch in Taten äußerte und den Verdacht der Sowjetmacht auf sich zog, hemmte auch die Bemühungen des Heiligsten Patriarchen, friedliche Beziehungen zwischen der Kirche und der Sowjetregierung herzustellen.“ (Hervorhebung von mir – G.T.)

Bis 1927 hatten viele Bischöfe, Priester, Kirchenmitarbeiter und Laien der Russischen Orthodoxen Kirche bereits das Martyrium für Christus durch die Hände der gottlosen sowjetischen Behörden erlitten: so die Märtyrer-Geistlichen Efrem (Kuznetsov) (1918), der Ioann Vostorgov (1918), Germogen (Dolganov) (1918), der Andronik (Nikolskij) (1918), der Nikodim (Kononov) (1919), Silvestr (Olshevsky) (1920), Veniamin (Kazanskij) (1922), Sergius (Shein) (1922), die Märtyrer Nikolaj Varzhansky (1918), Georgij Novitskij (1922), Ioann Kovsharov (1922) und viele andere, wie M. Sergij (Stragorodsky) sehr gut wusste. Dennoch äußerte er sich verächtlich über die Neumärtyrer als „bekannte kirchliche Kreise“, und machte sie öffentlich für das Fehlen „friedlicher Beziehungen“ zwischen der Kirche und der „sowjetischen Regierung“ verantwortlich. Welchen Schluss sollte man sonst aus den Worten von M. Sergij (Stragorodskij) ziehen, warum wohl die „sowjetische Regierung“ die Neumärtyrer hingerichtet hat? Sie selbst, so M. Sergij (Stragorodskij), hätten eben „Verdacht bei den sowjetischen Behörden erweckt“... Und das ist ein triftiger Grund für die Hinrichtung von Bischöfen und Geistlichen? Ist das ein aus ethischer Sicht einwandfreies Urteil eines heiligen Menschen?

Und das ist ein triftiger Grund für die Hinrichtung von Bischöfen und Geistlichen? Ist das ein aus ethischer Sicht einwandfreies Urteil eines heiligen Menschen?

Kann man heute ernsthaft Diskussionen über die Heiligsprechung von Patriarch Sergij (Stragorodskij) führen, solange die oben genannten Fragen und Zweifel keine umfassenden, detaillierten und dokumentarisch belegten Antworten erhalten haben?

Natürlich könnten die hochrangigen und einflussreichen Befürworter der Heiligsprechung von Patriarch Sergij versucht sein, die Annahme einer solchen Entscheidung künstlich zu „beschleunigen“, und ihre „administrativen Ressourcen“ nutzen, um beispielsweise zu versuchen, den Beschluss der Staatsanwaltschaft der Region Rostov vom 18. Juni 1993 zur Rehabilitierung von Erzpriester Vjačeslav Serikov aufgrund der Anklage des „Vaterlandsverrats“ im Strafverfahren Nr. P-54273 (1944-1945) aufzuheben.

Sollte dies jedoch geschehen, dann könnte dies real einen gegenteiligen Effekt haben: Anstatt die beabsichtigte moralische Rechtfertigung von Metropolit Sergij (Stragorodskij) und seinen Sendschreiben mit falschen Anschuldigungen gegen den russischen Klerus in den besetzten Gebieten zu erreichen, würde die politische Dimension dieses Projekts vollends offenbar werden... Doch wer braucht eine derartige politische „Heiligsprechung“? Mit Sicherheit nicht die Kirche, und nicht die Gläubigen.

[1] Der Artikel hat im russischen Original sechzig Fußnoten - Quellenangaben und Anmerkungen. Arbeitstechnisch übersteigt dies unsere Kapazitäten. Interessierte verweisen wir daher auf die russische Ausgabe “Vestnik”. - Red.

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