Das Glaubensbekenntnis als Mystagogie
- Der Bote
- vor 10 Stunden
- 12 Min. Lesezeit
Autor: Bischof von Stuttgart Hiob (Bandmann)
Einleitung
Sowohl im kirchlichen synodalen Betrieb als auch im ökumenischen Dialog kommen immer wieder theologische Dokumente zustande. Ihr Wert bzw. ihre Reichweite ist meist sehr begrenzt. Selten erfahren sie eine breite Rezeption über den überschaubaren Kreis der akademischen Theologie hinaus und nach kurzer Zeit verstauben sie in den Archiven der Kirchengeschichte. Das Glaubensbekenntnis von Nizäa und Konstantinopel ist nicht so ein Konsens-Dokument. Sowohl sein Ursprung als auch seine breite Verwendung zeugen davon, dass es über Jahrhunderte hinweg ein lebendiges Zeugnis des Glaubens und ein feierliches Gebet der Kirche geblieben ist. Es wird angenommen, dass als Grundlage des Glaubensbekenntnisses von Nizäa frühchristliche Taufbekenntnisse dienten[1], Texte aus dem liturgischen Leben der Kirche. Das Formular des Konzils wurde dann auch weiter bei der Taufe verwendet. Seinen sichtbarsten und ehrenvollsten Platz jedoch hat das Glaubensbekenntnis in der Göttlichen Liturgie der orthodoxen Kirche eingenommen. Um seine Funktion gerade in diesem für die Kirche konstitutivem Sakrament zu verstehen, müssen wir den mystagogischen Charakter der Liturgie würdigen.

Es kann als Verdienst der neueren liturgischen Theologie[2] angesehen werden, das mystagogische Verständnis der Liturgie wieder in den Fokus gebracht zu haben, welches danach fragt, was mit den Teilnehmern der Liturgie geschieht, wie sie in das Sakrament, anders: Mysterium „eingeführt“ werden (Myst-agogie, gr. Ago = führen). Insbesondere Protopresbyter Alexander Schmemann hat die mystagogische Deutung von der allegorisch-heilsgeschichtlichen unterschieden und als ursprünglichere und authentischere dargestellt. Letztere hielt er für eine Fehlentwicklung, die Deutung der einzelnen liturgischen Handlungen und Gegenstände als Symbole und Allegorien der heilsgeschichtlichen Ereignisse aus dem irdischen Leben Christi „zu ihrem Gedächtnis“ – für den Ausdruck einer falschen Frömmigkeit.
Wir möchten ihm so weit nicht folgen. Auch die Deutung bspw. des kleinen Einzugs mit dem Evangelium auf die Predigt Christi oder des großen Einzugs auf die Kreuzigung und Grablegung des Herrn sind weder als sekundär anzusehen, noch stehen sie im Widerspruch zur mystagogisch-ekklesiologischen Deutung der Liturgie als Sakrament des Himmelreiches.[3] Die lebendige Erinnerung des Lebens und des Erlösungswerkes Jesu Christi gehört seit der ersten Stunde zu den grundlegendsten Elementen des Christentums.
Die liturgische Einbettung des Glaubensbekenntnisses
Zunächst möchten wir den heutigen Stand des Liturgieformulars vor, während und nach dem Credo untersuchen. Das Nizäno-Konstantinopolitanum hält einen gebührenden Platz in der Chrysostomos-Liturgie, unmittelbar vor dem Eucharistischen Kanon, also dem zentralen und ältesten Teil der Eucharistiefeier. Es wird eingeleitet durch den Ausruf des Diakons: „Lasst uns einander lieben, damit wir einmütig bekennen.“ Der Diakon ruft so in einem Atemzug zum Friedenskuss und zum Glaubensbekenntnis auf. Die Liebe und Einmütigkeit im Glauben sind zugleich Voraussetzung und Folge des Credo. Die Priester verneigen sich dreimal vor den mit dem Aer (gr. Ἀήρ – die dritte Abdeckung, die beides, Diskos und Kelch gemeinsam bedeckt), bedeckten Gaben (Brot und Wein), wobei sie den Psalmvers beten (Psalm 17, 2-3a) „Ich will dich lieben, Herr, meine Stärke. Der Herr ist meine Feste, meine Zuflucht und mein Erlöser.“ Damit wird die eingeforderte Liebe untereinander wieder zu Gott erhoben und auch das Fundament des Glaubens – das Credo – zugleich zur „Feste“, die der Herr selbst ist, erklärt. Die Priester küssen einzeln Diskos, Kelch (durch den Aer hindurch) sowie den Rand des Antimins, bevor sie sich gegenseitig zum Friedenskuss mit den Worten begegnen: „Christus ist mitten unter uns“ – „Er ist es und wird es sein“. Der Friedenskuss wird heute nur noch von den zelebrierenden Priestern vollzogen.[4]
Der Chor antwortet derweil: „Den Vater und den Sohn und des Heiligen Geist, die wesenseine und untrennbare Dreiheit.“ – gewissermaßen eine Zusammenfassung des Glaubensbekenntnisses. Seine Quintessenz – das Bekenntnis zur Heiligen Dreiheit – sowie seine zentrale theologische Errungenschaft – das homoousios („eines Wesens“ - ὁμοούσιος) – werden hier vorausgeschickt und als Hymnus gesungen. Der darauf folgende Ausruf des Diakons „Die Türen, die Türen, in Weisheit lasst uns aufmerken“ bezieht sich auf den heute nicht mehr beobachteten Brauch, zum Ende der Liturgie der Katechumenen, welche früher den öffentlichen Teil des Gottesdienstes darstellte, alle Nichtgetauften hinauszuschicken („Ihr Katechumenen geht hinaus, alle Katechumenen geht hinaus, auf dass keiner der Katechumenen bleibe, ihr Gläubigen lasst uns in Frieden beten zum Herrn.“) und vor dem Eucharistischen Kanon die Türen zu verschließen.
Diese Praxis entstand im Kontext der disciplina arcani des 4. und 5. Jahrhunderts und zählte somit auch das Glaubensbekenntnis, die genaue Glaubenslehre, zu den Dingen, die vor den Ungetauften geheim zu halten waren. Damit stellt das Credo an dieser liturgischen Stelle, an der Schwelle zwischen Liturgie der Katechumenen und Liturgie der Gläubigen, auch eine Verbindung zwischen Taufe und Eucharistie dar, zwischen dem Bekenntnis des rechten Glaubens vor dem Eintritt in die Realität des Leibes Christi der Kirche, des „Anziehens Christi“ (Gal 3, 27 – „Einkleidung in Christus“) bei der Taufe, und dem Empfang des Leibes und Blutes Christi im Sakrament der Liebe, aus dem einmütigen Bekenntnis zu Ihm heraus. Hier wie dort ist das Bekenntnis wie auch das ganze Sakrament keine Sache des Einzelnen, sondern der Gemeinde. Der Täufling tritt durch das Bekenntnis des Glaubens in die Gemeinschaft der Gläubigen ein und auch das Sakrament der Eucharistie ist nur als Gemeinde und in Gemeinschaft des Glaubens denkbar.
In der griechischen Tradition wird das Glaubensbekenntnis von einem Leser vorgetragen, in der slawischen wird es vom gesamten Volk gesungen.[5] Währenddessen hält der Priester (oder alle anwesenden Priester zusammen) den großen Aer über oder vor den Heiligen Gaben und bewegt ihn auf und ab oder schüttelt ihn und rezitiert seinerseits das Glaubensbekenntnis.
Im Pontifikalamt stellt sich der Bischof nach dem Friedenskuss vor den Altar, neigt sich nach unten und hält sein Haupt – oft gestützt auf die auf dem Altartisch zusammengelegten Hände – unterhalb des von den Priestern gehaltenen Aer, während er das Credo spricht.
Erst wenn er fertig ist, wird der Aer beiseitegelegt und der Diakon ruft alle zur höchsten Konzentration und Aufmerksamkeit vor dem Eucharistischen Kanon mit dem Ausruf aus: „Lasst uns achtsam stehen, lasst uns stehen mit Ehrfurcht, lasst uns aufmerken, die heilige Opfergabe in Frieden darzubringen.“ Es folgt der Eucharistische Kanon und die Anaphora.
Liturgiegeschichtliche Entwicklung im Wechselspiel mit ihrer Deutung
Die Einführung des Glaubenssymbols in die Liturgie geht allen Anschein nach auf die Auseinandersetzungen mit den Monophysiten Ende des 5. Jahrhunderts zurück.[6] Laut der Kirchengeschichte des Theodoros Anagnostes (Lector) führte Patriarch Timotheos von Konstantinopel das „Symbolon der 318 Väter“[7] bei jeder „Synaxis“ (liturgischen „Zusammenkunft“) ein, kurz nachdem er 511 n.Chr. von Kaiser Anastasios I. als Nachfolger von Patriarch Makedonios II. eingesetzt wurde.
Ironischerweise geht diese Praxis mutmaßlich auf die Monophysiten zurück, die ihren Protest gegen das Konzil von Chalkedon damit zum Ausdruck bringen wollten, dass sie das Nizänische Glaubensbekenntnis prominent vorlasen. Patriarch Timotheos griff diese Praxis nun auf, angeblich um dem eher monophysitisch eingestellten Kaiser zu gefallen. Aber auch die Befürworter des Konzils von Chalkedon hielten Nizäa in Ehren und beließen das Glaubensbekenntnis in der Liturgie, nachdem mit Patriarch Johannes wieder ein Vertreter der Orthodoxen auf dem Patriarchen-Thron von Konstantinopel saß.
Wie wir aus einem Fragment der Akten eines Konstantinopler Konzils von 518 erfahren, hielt am 16. Juli 518 eine Volksmenge das neue Oberhaupt der Kirche von Konstantinopel davon ab, morgens die Kathedrale zu betreten, bis er sich ausdrücklich zum Konzil von Chalkedon bekannte. Daraufhin begann die Liturgie mit dem Trishagion und „als die Pforten geschlossen wurden und das Glaubensbekenntnis wie üblich gesprochen wurde, drängte sich während der Diptychen die Menge der Gläubigen am Altar, um zuzuhören,“ wie feierlich die vier Ökumenischen Konzile und die Diptychen kommemoriert wurden.[8] Damit ist die Praxis als in Konstantinopel etabliert anzusehen.
Die prominente Einfügung des Glaubensbekenntnisses im Gottesdienst scheint also zunächst Ausdruck dogmatischer Auseinandersetzungen gewesen zu sein, es wurde zu einem Symbol kirchenpolitischen Protests, wenn nicht sogar häretischer Versteifung, dann wiederum zum Ausweis rechten Glaubens. Wie kann aus so einem Hintergrund, möchte man fragen, eine positive Rolle des Symbolons für das Mysterium der Eucharistie erwachsen?
Eine Deutung der liturgischen Entwicklung nur aus dem historischen und politischen Kontext geht m.E. jedoch am Geist der Alten Kirche vorbei. Keine liturgische Innovation kann als rein intellektuelle Botschaft oder politische Ansage verstanden werden. Jeder „erfolgreiche“ Eingriff in die liturgische Tradition geschieht meistens aus einem lebendigen liturgischen Bewusstsein und Verständnis heraus, welches zwar nicht unbedingt seinen „Ursinn“ bewahren muss, also ein Gedächtnis an Zeitpunkt und Motiv seines Entstehens; er setzt m.E. jedoch sowohl einen bewussten un gekonnten Umgang mit den liturgischen Formen voraus, als auch eine über die historische Bedingtheit erhabene liturgische Intention. Zumindest sollte man so eine Intention stets vermuten und suchen – besonders dort, wo ein gottesdienstliches Element sich breit etabliert und über Jahrhunderte hinweg gehalten hat.
Die liturgische Intention für die Einfügung des Symbolons vor den Eucharistischen Kanon ist m.E. gut zu erkennen. Der orthodoxe Glaube ist ein kostbares und schützenswertes Gut der Gemeinschaft der Gläubigen. Das Bekenntnis kann als Unterscheidungsmerkmal dienen und stiftet eine tiefgreifende Identität. Die drei Grundvollzüge des Mysteriums der Eucharistie – Gedenken, Danksagung und Teilhabe – beziehen sich auf die zentralen Inhalte des Glaubensbekenntnisses: Schöpfung, Menschwerdung, Leiden, Tod und Auferstehung Christi, Offenbarung des Heiligen Geistes in der Kirche und die Hoffnung auf die Parousie, die Wiederkehr Christi. Das Anaphoragebet greift in seinem Kontext der umfassenden Danksagung dieselben Themen wieder auf: „Würdig ist es und recht, Dich zu preisen, Dich zu segnen, Dich zu loben, Dir Dank zu sagen …“. Besonders das Heilswerk des Gottessohnes wird in der Liturgie sowohl allegorisch abgebildet, kommemorativ als Grund der Danksagung genannt, als auch mystisch-mystagogisch in Teilhabe erlebt – wir trinken im wahrsten Sinne des Wortes Sein Blut, das für uns vergossen wurde. Das Glaubensbekenntnis steht daher genau an der richtigen Stelle, um die Gläubigen im Bekenntnis und im Gedenken zu einen und sie auf das Mysterium der Liebe Christi vorzubereiten.
Der Aer
Der (große) Aer wurde nach ältesten Quellen[9] nach dem Glaubensbekenntnis und zu Beginn des Eucharistischen Kanons von den Heiligen Gaben abgenommen und weggelegt. Severos von Antiochia († 538) beschreibt in einem Sendschreiben die antiochenische Tradition bezüglich des Aer und bietet auch gleich eine Deutung an:
„In Palästina und Jerusalem heben die Diakone, während der Priester das obige Gebet spricht, häufig und fortwährend [den Schleier] und senken ihn wieder bis zum Ende des Gebetes, wonach der Priester mit der Bitte über das dargebrachte Opfer beginnt. Was auf diese Weise geschieht, erinnert uns an die Bedeckung oder den Schleier, der vom Himmel auf Petrus herabkam… Das auf den Altar gelegte Tuch zeigt also, dass es, indem es sich hebt und senkt, die reiche und schöne Gabe des göttlichen Geistes darstellt, der in einer Vision auf Petrus herabkam.“
De Meester vermutet, dass das Glaubensbekenntnis bei seiner Einfügung ein aus der oben beschriebenen antiochenischen Tradition bekanntes „Gebet über den Aer“ (oratio veli) ersetzt haben könnte, währenddessen ursprünglich das Tuch auf- und abbewegt wurde. Dieses dürfte jedoch nichts anderes als das Proskomediegebet gewesen sein, welches in der byzantinischen Tradition während der Annäherung an den Altar am Ende des Großen Einzugs gebetet wurde.[10] In der byzantinischen Liturgie ist dieser Ritus des Wehens mit dem Aer erst im 10. Jahrhundert eindeutig belegt. Es wird dann zumeist von einem dreimaligen Heben und Senken gesprochen und synchron zum dreigliedrigen Ausruf „Lasst uns achtsam stehen, lasst uns stehen mit Ehrfurcht, lasst uns aufmerken …“ gedacht. Die Dreizahl zog später die leise Rezitation des Trishagion auf die Bewegung des Aer nach sich. Erst in der „Erklärung des göttlichen Tempels“ des hl. Simeon von Thessaloniki († 1429) und im Codex Sinaiticus 986 lernen wir, dass der Ritus des Haltens bzw. des Hebens und Senkens des Aer über den Heiligen Gaben nun während des Glaubensbekenntnisses praktiziert wurde und er mit Beginn des „Lasst und achtsam stehen …“ beiseitegelegt wurde:
„Warum bleiben die göttlichen Gaben bedeckt, bis das Glaubensbekenntnis beendet ist? Sie halten (κρατοῦσι) den heiligen Schleier über den Gaben, bis das Glaubensbekenntnis beendet ist, denn es ist notwendig, dass alles, was sich auf Jesus bezieht, deutlich verkündet wird.“[11]
Neben dieser Deutung gibt es noch andere Interpretationen des Aer in der Liturgie der Gläubigen. Im 8. Jahrhundert deutet eine byzantinische Quelle, verfasst von Pseudo-Germanus von Konstantinopel, den Aer als Vorhang des himmlischen Tempels (Hebr. 10:20) und als Stein, der das Grab Christi versiegelte.[12] Weitere von Severus von Antiochien erwähnte Deutungen verstehen den Aer als das Leichentuch Christi; der Ritus des Großen Einzugs, bei dem der Aer hinausgetragen wird, wird dabei als Begräbnisprozession gedeutet. Schließlich konnte der Aer symbolisch mit der himmlischen Feste (Firmament – Gen 1,8) gleichgesetzt werden.
Erst im 19. oder 20. Jahrhundert begann sich in der griechischen und melkitischen Tradition die Praxis durchzusetzen, bei welcher der Aer zu Beginn des Glaubensbekenntnisses von den Gaben genommen und senkrecht vor oder um die Heiligen Gaben gehalten bzw. gewedelt wird, womit z.T. die Symbolik und die damit verbundene Deutung kaum noch wiederzuerkennen ist.
Die heutige Praxis in der Bischofsliturgie, den Aer über dem Haupt des Bischofs auf- und abzubewegen, lässt sich schwer historisch nachzeichnen. Die Rubriken der russischen Liturgiereform unter Patriarch Nikon 1666-1667 erwähnen immerhin, dass der Aer über dem Haupt des Bischofs aufgehoben und hinter seinem Rücken zusammengelegt wird.[13] Alle diese Praktiken bezeugen den Versuch, das Wehen bzw. die Anwesenheit des Heiligen Geistes auf den Hl. Gaben (und auf dem Vorsteher der Liturgie) auszudrücken. Dass dieser Ritus sich mit der Zeit mit dem Bekenntnis des Nizäno-Konstantinopolitanums verbunden hat, ist wohl kein Zufall. Der „Geist der Wahrheit“[14] erweist seine Anwesenheit im Bekenntnis des wahren Glaubens, was liturgisch vielleicht mehr Sinn ergibt, als eine Vorwegnahme der Herabrufung (Epiklese) des Heiligen Geistes auf die Heiligen Gaben, die ja erst nach der Anaphora erfolgt. Sehr eindrucksvoll zeigt sich diese Interpretation in der heutigen Bischofsliturgie, wenn der Aer durch die Priester über dem Haupt des Bischofs auf- und abbewegt wird, während dieser im Altar hörbar das Symbolon rezitiert.
Fazit
Erst die mystagogische Deutung der Liturgie eröffnet den gesamten Reichtum des sakramentalen Erlebens. Man wird A. Schmemann insoweit recht geben müssen, als die rein allegorisch-heilsgeschichtliche Deutung ohne ein Bewusstsein für den eigentlichen Sinn und den Geist dahinter der Liturgie nicht selten Gewalt antut. So wird z.B. in der im Russland des 19. Jahrhunderts sehr populären „Kurzen Erläuterung zur Göttlichen Liturgie in Fragen und Antworten“ von Priester Nikifor Vostokov (erschienen 1864) jedes Element des Gottesdienstes als Darstellung eines heilsgeschichtlichen Moments festgesetzt. Zu dem uns interessierenden Abschnitt der Liturgie schreibt er folgendes:
An welches Ereignis erinnern sich der Priester und der Diakon vor dem Gesang des Glaubensbekenntnisses?
Vor dem Gesang des Glaubensbekenntnisses erinnern sie sich an die Auferstehung unseres Herrn und Gottes Jesus Christus am dritten Tag nach seinem Tod.
Zu welcher Zeit genau wird an die Auferstehung Jesu Christi erinnert?
Die Auferstehung Jesu Christi wird genau in dem Moment in Erinnerung gerufen, wenn der kirchliche Vorhang zurückgezogen wird und der Diakon ruft: „Die Türen, die Türen! – In Weisheit lasst uns aufmerken!“ Der Priester hebt den Aer vom Altar und schwingt ihn über den Gaben, während er leise das Glaubensbekenntnis spricht... Dasselbe wird zu dieser Zeit auch im Chor gesungen.
Was bedeutet der Ruf des Diakons: Die Türen, die Türen?
Der Diakon erinnert an die Auferstehung des Herrn und sagt damit sozusagen: „Die Türen, die Jesus Christus verschlossen hielten, haben sich geöffnet: Er ist von den Toten auferstanden, Stein und Siegel konnten ihn nicht halten, und die Wachen sind alle vor Angst geflohen!“
Woran erinnert uns in diesem Moment das Öffnen des Vorhangs und das Abnehmen des Aer von den Heiligen Gaben?
Da der Aer und der Tempel-Vorhang mit dem Ende des Großen Einzugs bis zu diesem Zeitpunkt den Stein symbolisierten, der vor dem Grab des Herrn lag, erinnern uns das Öffnen des Vorhangs und das Abnehmen der Decke an den Moment, als der Engel des Herrn den Stein vom Grab wegrollte.
Woran erinnert uns in diesem Moment das Schwenken des Aer?
Das Schwanken des Aer erinnert uns an das Erdbeben, das bei der Auferstehung Jesu Christi stattfand. Das Schwanken des Aer bedeutet auch das Wehen des Heiligen Geistes über den Gaben.
Warum wird bei der Erinnerung an die Auferstehung des Herrn das Credo gesungen?
Weil Jesus Christus durch seine Auferstehung unseren Glauben an Ihn als den Sohn Gottes und auch den Glauben an seine Sakramente, ohne die der Mensch nicht gerettet werden kann, vollständig bestätigt hat. Die Auferstehung Jesu Christi ist der stärkste Beweis unseres Glaubens.
Angesichts unserer historischen Einordnung dieser liturgischen Handlungen erscheint diese Deutung z.T. verfehlt oder beliebig. Es ist hauptsächlich der krampfhafte Versuch, jedes Element streng chronologisch in die biblische Geschichte einzupressen, der die in jener Epoche vorherrschende liturgische Frömmigkeit einseitig und verkürzt erscheinen lässt.
Das Glaubensbekenntnis (Credo) von Nizäa und Konstantinopel hat seit seinem Einzug in die Liturgie trotz der Vielzahl von Deutungen und auf es bezogener Symbole seine wesentliche und grundlegende Funktion als Bekenntnis und Hymnus des einenden Glaubens stets bewahrt, der zugleich als mystagogisches Gebet die Gläubigen zum Mysterium der Teilhabe am Erlösungswerk Christi hinführt.
Gerade die dynamische und wechselhafte liturgische Entwicklung um das Credo herum einschließlich des Friedenskusses und des Hebens des Aer, die auch bis heute nicht zum Stehen gekommen ist, zeigt, dass sein liturgischer Vollzug durch alle Zeiten hinweg ein bewusster und integraler war. Das Credo kann definitiv als lebendige Überlieferung bezeichnet werden und ist aus der Eucharistie nicht mehr wegzudenken – auch heute, wenn die orthodoxen Kirchen im Kontext der ökumenischen Bewegung immer wieder erklären müssen, dass für sie die eucharistische Gemeinschaft am Kelch Christi untrennbar verbunden ist mit der Gemeinschaft des Glaubens. Denn ohne diese Einheit, welche die Konzilsväter von Nizäa unter dem Beistand des Heiligen Geistes erfochten haben, kann der Heilige Geist auch nicht in den Sakramenten der Kirche anwesend sein.
[1] Vgl. Ernst Dassmann, Kirchengeschichte Bd. 2 (Kohlhammer Studienbücher Theologie; Bd. 11,2), Stuttgart-Berlin-Köln 1999, S. 39.
[2] Vgl. Karl Christian Felmy, Einführung in die orthodoxe Theologie der Gegenwart, Berlin-Münster 32014, S. 198f.
[3] Vgl. Alexander Schmemann, Eucharistie. Sakrament des Gottesreiches (orig. The Eucharist), Einsiedeln 2005.
[4] Vgl. Robert F. Taft, The Great Entrance, Rom 21978, S.395.
[5] Zur Entwicklung der Frage siehe ibid.., S. 416f.
[6] Vgl. Robert F. Taft, The Great Entrance, Rom 21978, S. 398.
[7] Gemeint war wohl trotzdem der Text des Nizäo-Konstantinopolitanum, der jedoch eigentlich aus den Konzilsakten von Chalkedon bekannt ist, vgl. a.a.O., S. 400f.
[8] Schwartz, Acta Conc. Oec. III, p. 76 (= Mansi 8, 1066); vgl. Robert F. Taft, a.a.O., S. 401.
[9] Vgl. Robert F. Taft, The Great Entrance, Rom 21978, S. 418.
[10] Ibid., S. 419.
[11] Simeon von Thessaloniki, Expositio de divino templo, PG 155, 732.
[12] Vgl. М. В. Вилкова, Михаил Желтов, «Воздух», Православная Энцикопедия Bd. 9, Moskau 2010, 184f.
[13] Robert Taft, a.a.O., S. 423.
[14] Joh 15,26. Gebet an den Heiligen Geist „Himmlischer König“.









Wie spannend und interessant alles hinter dem scheinbar Bekannten ist! Täglich spreche ich diese Sätze aus und weiß überhaupt nicht, was dahinter steht ... Danke, lieber Vladyka! 🙏