top of page

Der Diskurs um den Lebensschutz und der Beitrag der Orthodoxie

Aktualisiert: 19. Sept.

Autor: Priester Georgij Safoklov, Dr. iur., Köln

Der Artikel stellt eine Replik auf den Aufsatz von Bischof Hiob von Stuttgart (Dr. Bandmann) „Lebensschutz ungeborener Kinder. Orthodoxe Bewertung einer jüngst entflammten Debatte“ dar. Er beleuchtet die Problematik des Lebensschutzes zunächst weniger aus der christlichen, sondern aus der allgemeinen sozial-anthropologischen Perspektive. Die Bestandsaufnahme und die Kritik an den vorhandenen Begründungsansätzen ermöglichen den Zugang der orthodoxen Christen zu einer gesellschaftspolitischen Debatte, die bei weitem nicht unter christlichen Vorzeichen und unter Beteiligung breiter nicht-christlicher Kreise geführt wird, und eröffnen die Möglichkeit zur Einbringung christlich-orthodox geprägter Argumente. 

Priester Georgij Safoklov
Priester Georgij Safoklov

Es bedarf keiner besonderen Gabe und ebenso wenig spezifischer Fachkenntnisse, um zu erkennen, dass das menschliche Leben gegenwärtig im Mittelpunkt fundamentaler, ja gesellschaftstragender Diskussionen steht. Es sind nicht mehr die temporären Grenzen des Lebens, die Fragen nach seinem Beginn und Ende – diese werden, zumindest im rechtswissenschaftlichen Bereich, bereits seit Mitte des 20. Jh. intensiv behandelt –, sondern die Inhalte und die Teleologie, also der Sinn und Zweck des Lebens, über die gegenwärtig intensiv debattiert und mitunter heftig gestritten wird. Die Kontroverse lässt sich mühelos erkennen, denn einerseits werden Belange des Lebensschutzes verabsolutiert und anderen, nicht minder signifikanten individuellen und gesellschaftlichen Interessen vorgeordnet, andererseits wird aber der Wert des menschlichen Lebens relativiert und das Leben selbst instrumentalisiert.

Zu den umstrittensten Fragen des Lebensschutzes gehört die Problematik der Verfügbarkeit des menschlichen Lebens, insbesondere der Bereich der Euthanasie. Kaum ein anderer Aspekt besitzt eine ähnlich ausgeprägte geistliche Dimension. Es geht, im Gegensatz zum Problemfeld des Schwangerschaftsabbruchs, nicht um fremdes, sondern um eigenes Leben, so dass keine – zugegebenermaßen äußerst schwierigen, bisweilen unauflösbar scheinenden – Abgrenzungen zum Mord bzw. Totschlag vorgenommen werden müssen, sondern sich ganz andere, weniger juristische denn philosophische Fragen stellen: Was darf (soll?) ich mit meinem Leben machen? Bin ich in meiner Lebensgestaltung vollkommen frei oder sind mir hierbei Grenzen gesetzt, und, wenn ja, welche sind es und aus welchem Grund bestehen sie? Die praktische Relevanz dieser vermeintlich rein abstrakten Überlegungen zeigt sich hier in aller Deutlichkeit: Von der Entscheidung allgemeiner Seinsfragen hängt die Gestaltung ganz konkreter Lebenssituationen ab. Für orthodoxe Christen ist der Themenkomplex des menschlichen Lebens deshalb besonders interessant und relevant, weil er sich nicht auf die anthropologische Ebene beschränkt, sondern auch eine theologische Komponente aufweist.

Die Position des Bundesverfassungsgerichts: Die absolute Verfügungsmacht des Menschen über sein Leben gründet im absoluten Charakter der Menschenwürde

Das Bundesverfassungsgericht hat den hohen Wert des menschlichen Lebens bereits in der frühen Phase seiner Rechtsprechung anerkannt. Die Existenz des Menschen wurde von ihm als Grundvoraussetzung des auf der Idee einer menschenzentrierten Schöpfungsordnung gründenden Gemeinwesens[1] und die Abschaffung der Todesstrafe im lakonisch formulierten Art. 102 Grundgesetz (GG) als grundlegendes staatliches Bekenntnis zur Wertigkeit des menschlichen Lebens sowie Absage an die totalitäre Inpflichtnahme des Menschen für übergeordnete, elitär-herrschaftlich definierte Gemeinwohlzwecke gedeutet.[2] Als „vitale Basis der Menschenwürde und Voraussetzung aller anderen Grundrechte“[3] wurde das Leben in eine untrennbare und folgenreiche Konnexion mit der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG gebracht. Des Weiteren untersagte das Gericht jegliche Abwägungen des Lebens einer Person gegen das Leben anderer und lehnte inzident auch alle sonstigen Ansätze zur Graduierung bzw. Klassifizierung von Menschenleben ab und stattete das Abwägungsverbot zudem mit zeitloser Geltungsdauer aus.[4] 

Darüber hinaus stellte das Bundesverfassungsgericht in einer anderen Entscheidung fest, dass der Staat sich „schützend und fördernd“ vor das menschliche Leben stellen und dieses vor rechtswidrigen Eingriffen anderer bewahren müsse.[5] Dabei müsse (und dürfe) der Staat nicht einen konkreten Schadenseintritt abwarten, vielmehr obliege ihm die Durchführung prophylaktischer risikovorbeugender Maßnahmen.[6] Dies schließe unter anderem die Befugnis ein, Frühwarnmechanismen bereits bei Vorliegen abstrakter Lebensgefahren aufzustellen, auch wenn der Schadenseintritt unsicher erscheine oder zeitlich weit entfernt sei.[7] Ferner können nach Auffassung des Gerichts besondere Situationen sogar staatliche Schutzmaßnahmen gegen den Willen des Betroffenen erfordern, wenn dieser etwa die Lebensgefahr mangels hinreichender Einsichtsfähigkeit nicht zu erkennen vermag.[8] 

Im Urteil über das strafrechtliche Verbot geschäftsmäßiger Förderung der Selbsttötung gemäß § 217 Abs. 1 Strafgesetzbuch aus dem Jahr 2020[9] definierte das Bundesverfassungsgericht das Recht auf selbstbestimmtes Sterben als Ausdruck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und entkoppelte damit den Themenkomplex der freiwilligen Lebensbeendigung vom Recht auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Nach Auffassung des Gerichts findet die grundrechtlich geschützte Selbstbestimmung der Persönlichkeit darin ihren Ausdruck, dass der Mensch über sich selbst in jeder Lebenslage frei verfügen kann, was auch das Recht zur Verfügung über das eigene Leben einschließt.[10] Die Entscheidung über das Leben wird damit zum tragenden Element der menschlichen Identität und Individualität erhoben, welches – so das Gericht – das Recht zur eigenverantwortlichen Beendigung des Lebens emaniert. Im Urteil wird klargestellt, dass weder der Gesundheitszustand des Grundrechtsträgers noch Erwartungen oder Wertvorstellungen Dritter die höchstpersönliche Entscheidung über das eigene Leben beeinflussen dürften.[11] Den Vorhalt, die Anerkennung des Rechts auf freiwillige Lebensbeendigung verstoße gegen die Garantie der Menschenwürde, weil damit deren „vitale Basis“ zerstört werde, erwidert das Gericht mit dem Argument, dass sich der der Menschenwürde innewohnende Gedanke der persönlichen Autonomie eben im Entschluss zur Selbsttötung manifestiere, weshalb nicht ein Verstoß, sondern eine grundrechtlich gestützte Betätigung der Menschenwürde vorliege.[12] Dementsprechend werden an die Rechtfertigung staatlicher Maßnahmen, die das Recht des Einzelnen auf freiwillige Lebensbeendigung beschränken, hohe Anforderungen gestellt.[13] Eingriffe werden nämlich nur dann als zulässig erachtet, wenn sie die persönliche Selbstbestimmung des Einzelnen schützen, etwa bei Suizidentschlüssen in Affektsituationen oder solchen nicht oder vermindert einsichtsfähiger Personen.[14] Dagegen können lebensschützende staatliche Maßnahmen, die der Ausführung des eigenverantwortlichen Entschlusses zur Selbsttötung entgegenstehen, nicht gerechtfertigt werden.[15] 

Der Beitrag des Bundesverwaltungsgerichts: Der Sterbewunsch erfordert suizidfördernde Maßnahmen des Staats

Das Bundesverwaltungsgericht hat den in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zwar angedeuteten, aber noch nicht realisierten Perspektivenwechsel, welcher den Fragenkomplex der Selbsttötung aus dem Rahmen des Rechts auf Leben löst und dem „Selbstbestimmungsareal“ des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zuführt, noch vor dem klarstellenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot geschäftsmäßiger Suizidförderung vollzogen. Ausgehend vom Recht zum Verzicht auf medizinische Behandlungsmaßnahmen, ist es bereits im Jahre 2017 zu der Ansicht gelangt, dass eine unheilbar kranke Person in Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts den Zeitpunkt der Lebensbeendigung eigenständig festlegen könne und bei dieser Entscheidung vom Staat nicht behindert werden dürfe. Diesen Ausführungen schloss sich der konkretisierende Zusatz an, wonach die Aktivierung des Selbstbestimmungsrechts nicht an den Beginn einer aktiven Sterbephase geknüpft sei.[16] 

Wahrhaftig neuartig waren indessen die vom Gericht aufgestellten Verhaltensanforderungen, welche die Behandlung der Todeswünsche der Bürger durch staatliche Stellen betrafen. Ausgangspunkt der diesbezüglichen Argumentation war die Qualifizierung der Vorenthaltung todbringender Medikamente bei explizit geäußertem Sterbeverlangen als eine eingriffsgleiche Handlung, die den Schutzbereich des Selbstbestimmungsrechts des Patienten mittelbar verkürzt.[17] Dieser Begründungsansatz wurde, in Anlehnung an die Interpretationsgrundsätze der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, durch die Heranziehung des absoluten grundrechtlichen „Superschwergewichts“ – der Menschenwürdegarantie – zusätzlich gefestigt. Nach Auffassung des Gerichts folgt aus der Würdedimension des allgemeinen Persönlichkeitsrechts die Pflicht zur Achtung des individuellen Sterbewunschs, der eine Betätigung des Selbstbestimmungsrechts darstellt. Bei unheilbar kranken und schwer leidenden Personen finde eine Intensivierung des Pflichtengrades statt, sodass dem Staat anstelle der abstrakten Achtungspflicht eine nunmehr konkrete Pflicht zum Schutz des Selbstbestimmungsrechts des Suizidwilligen obliege, welche er durch die Gewährung des Zugangs zum begehrten tödlich wirkenden Medikament zu erfüllen habe.[18] An einer späteren Stelle derselben Entscheidung wurden die Schranken dieses Ausnahmetatbestands jedoch aufgehoben und der Staat zur aktiven Unterstützung und Hilfeleistung bei jedem selbstbestimmten Todeswunsch unabhängig vom Vorliegen einer gesundheitlichen Notlage verpflichtet.[19]

Die juristische Fachliteratur: Suizid als „Negierung des Lebens“ oder als finaler Selbstbestimmungsakt

Im juristischen Schrifttum wird die Anerkennung des Rechts auf den Freitod durch die Gerichte nicht in Frage gestellt. In der deutschen Jurisprudenz hat sich damit ein Konsens eingestellt, der unbedingt im Auge behalten werden muss: Das Recht des Menschen auf freiwillige Lebensbeendigung ist ein disziplinübergreifendes und wohl irreversibles wissenschaftliches Faktum. Über die dogmatische Fundierung des Selbsttötungsrechts wird hingegen heftig gestritten. Dabei entfaltet dieser scheinbar rein akademische Streit durchaus greifbare praktische Auswirkungen, weil unterschiedliche Begründungen des Sterberechts verschiedene Antworten auf die Frage nach dem rechtlich gebotenen Umgang des Staates mit seinen sterbewilligen Bürgern bedingen.

So ordnet eine Auffassung die Selbsttötungsproblematik in den verfassungsrechtlichen Rahmen des Rechts auf Leben ein und expliziert sie im Lichte sogenannter „negativer Freiheiten“. Analogien zur Religionsfreiheit (Recht, nicht zu glauben und keiner Glaubensgemeinschaft anzugehören), Vereinigungsfreiheit (Recht, sich mit niemandem zu vereinigen und Vereinigungen fernzubleiben), Versammlungsfreiheit (Recht, von Versammlungen Abstand zu nehmen) und etlichen anderen Grundrechten erlauben auch beim Recht auf Leben die Annahme einer negativen Freiheitsdimension: das Recht, nicht zu leben, also die freiwillige Lebensbeendigung.[20] Es wird argumentiert, dass die Verneinung des Rechts auf Selbsttötung freiheitsverkürzend wirke und daher der freiheitssichernden und -fördernden Funktion der Grundrechte widerspreche[21] Einer „Pflicht zum Weiterleben“ stehe die sämtliche Rechtsbereiche durchdringende Garantie der Menschenwürde entgegen, aus deren Perspektive das Aufoktroyieren selbst begünstigender Rechtspositionen eine dem Selbstbestimmungsrecht widersprechende und daher unzulässige hoheitliche Handlung darstelle.[22] Dieser Ansicht zufolge hat der Staat den Sterbewunsch seiner Bürger zu achten; weitergehende staatliche Verpflichtungen bestehen hingegen nicht.

Eine andere Argumentation zur Begründung des Rechts auf den Freitod besteht im Weg über das durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG garantierte allgemeine Persönlichkeitsrecht. Anhänger dieser Ansicht leiten aus dem Entschluss zur Beendigung des eigenen Lebens, der als Ausdruck der persönlichen Selbstbestimmung gewertet wird, nicht nur die allgemeine Achtungs-, sondern auch eine aktive Unterstützungspflicht staatlicher Stellen ab. Den Ausgangspunkt bildet die These, nach welcher sich der Staat nicht allein mit der Unterlassung von Grundrechtseingriffen begnügen dürfe, sondern auch Bedingungen zur effektiven Wahrnehmung von Grundrechten bereitstellen müsse.[23] Da sich aber der Sterbewunsch bisweilen allein durch die hoheitliche Gewährung des Zugangs zu tödlich wirkenden Medikamenten verwirklichen lasse, verdichte sich die verfassungsrechtlich abgesicherte Erwartung der Achtung der grundrechtlich geschützten Selbstbestimmung zu einem konkreten Anspruch auf den Erhalt der begehrten Substanzen.[24] 

Kritik

Die auf die Begründung des „Sterberechts“ gerichteten Argumentationsversuche der Rechtsprechung und Fachliteratur verfehlen ihr Ziel. Sie sind aus teleologischen, verfassungsdogmatischen und verfassungspolitischen Gründen nicht überzeugend.

Die Sakralisierung des menschlichen Lebens durch den Konnex mit der Menschenwürde

Die Annahme eines „würdehaltigen“ Gewährleistungskerns des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG steht und fällt mit dem Gedanken einer inneren Verbindung zwischen dem Recht auf Leben und der Menschenwürde, die den Umgang mit dem menschlichen Leben dem Beurteilungsmaßstab des Art. 1 Abs. 1 GG zuführt. Konsequent fortgedacht, müssten die Anhänger dieser Position zur absoluten Indisponibilität des menschlichen Lebens gelangen. Der von ihnen behaupteten „Seelenverwandtschaft“ des Rechts auf Leben mit der Menschenwürdegarantie einerseits und der Unverfügbarkeit der Menschenwürde andererseits eingedenk, erscheint die Schlussfolgerung der absoluten Unantastbarkeit des „würdeerfüllten“ Lebens logisch zwingend.[25] Den Schlussakkord dieser gedanklichen Konstruktion müsste die Feststellung bilden, dass das Recht auf Leben den Suizid nicht nur nicht erlaubt, sondern das Leben als „Ausdruck“ der Menschenwürde mit allen Mitteln bedingungslos schützt, womit jedoch das exakte Gegenteil des anvisierten Ziels, der Begründung des „Sterberechts“, erreicht würde.

Die Unschlüssigkeit dieses Ansatzes wird auch durch die unvermeidliche Nebenwirkung der Verbindung des Rechts auf Leben mit der Menschenwürdegarantie deutlich: Wird nämlich das menschliche Leben nur als verkörperte Erscheinungsform der Menschenwürde angesehen, so muss jeder Eingriff in den Schutzbereich des Rechts auf Leben zumindest als mittelbarer Eingriff in die Menschenwürde qualifiziert werden, was auf Grund des absoluten Schutzcharakters der Menschenwürdegarantie zwingend zur Feststellung einer nicht rechtfertigungsfähigen Grundrechtsverletzung führen muss. Von einer derartigen juristischen „Sakralisierung“ des Lebens wagen wohl nicht einmal die Vertreter des ultrakonservativen Meinungsspektrums zu träumen. Praktische Rechtsfolgen dieser Auffassung wären etwa die prinzipielle Unzulässigkeit des sog. finalen Rettungsschusses (Tötung des Angreifers durch Polizeibeamte zur Rettung Dritter) oder die Unmöglichkeit, einen tödlichen, aber unvorsätzlichen ärztlichen Fehler zu rechtfertigen; diese Konstellationen der Lebensbeendigung stellten nach dieser Ansicht einen Eingriff in die Menschenwürde dar und wären damit verfassungsrechtlich nicht rechtfertigungsfähig.

Das Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG: (Nur) Ein Recht zu leben, kein Recht zu sterben

Das Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG schützt allein das Rechtsgut „Leben“ gegen fremde, in erster Linie staatliche, aber auch private Eingriffe, nicht aber auch seine Verfügbarkeit. Dem Staat sind lebensbeendende Maßnahmen sowie Urteile über den Wert bzw. Unwert konkreter menschlicher Leben mit allen negativen Folgen für das vermeintlich unwerte Leben untersagt.[26] Der Abwehrcharakter dieses Grundrechts ermöglicht jedoch keine Herleitung eines Rechts zu sterben, weil der Grundrechtsschutz sich allein auf den Erhalt des Lebens in seinem Bestand und die Unterbindung fremder Eingriffe erstreckt.[27] Wollte man also auf Biegen und Brechen eine negative Dimension des Rechts auf Leben konstruieren, so führte es nicht zum gewünschten Ergebnis: Die Rechtsfolgen einer solchen Negation erschöpften sich allein darin, dass der Berechtigte auf den staatlichen Schutz seines Lebens verzichtet und der Staat diese Entscheidung nolens volens dulden müsste. Konkrete Leistungsansprüche gegen den Staat, etwa solche auf Gewährung letal wirkender Mittel, ließen sich auf der Grundlage einer solchen „negativen Lebensfreiheit“ aber nicht begründen.[28] 

Das unauflösbare Dilemma der staatlichen Unterstützungspflicht beim Suizid

Die Befürworter des „Rechts auf Sterben“ stürzen den Staat in einen konzeptuellen Widerspruch. Selbstbestimmung setzt Leben zwingend voraus, ohne die „vitale Basis“ ist keine Persönlichkeitsentfaltung, ja kein Personensein möglich. Ein Staat, der der menschlichen Persönlichkeitsentfaltung den höchsten Wert zumisst und sich zur größtmöglichen Förderung der Selbstbestimmung seiner Bürger verpflichtet, gerät in einen systemischen Konflikt, wenn ihm abverlangt wird, einen Beitrag zur Beendigung selbstbestimmten Verhaltens zu leisten, welche mit dem Ende des Lebens einhergeht. Solange der Grundrechtsträger sich als aktives, fortdauerndes und erfüllungsbedürftiges Projekt versteht und betätigt, genießt er den Schutz des Grundgesetzes und kann vom Staat die erforderliche Mitwirkung beanspruchen. Wird aber der Staat zur tatkräftigen Unterstützung des Sterbewunschs seiner Bürger aufgefordert, so wird er zugleich zur Beendigung des „Projekts“ verpflichtet, welches er von Verfassungs wegen schützen und fördern soll.

„Niemand stirbt sich allein“: Die immanente Gemeinschaftlichkeit des Menschen

Seit Aristoteles‘ Charakterisierung des Menschen als „politisches Lebewesen“[29] sind Kommunikation und Interaktion als Kernbedürfnisse der menschlichen Natur anerkannt. Die Einzelperson entfaltet sich demnach primär durch Kontakte mit ihrer Umgebung, mit der sie ihre inneren Empfindungen teilt und von der sie Impulse zur weiteren Entfaltung rezipiert. Erst durch die Zusammenwirkung mit der Gemeinschaft realisiert der Mensch seine individuellen Freiheiten und richtet sein Leben auf die freiheitliche Persönlichkeitsentfaltung aus.[30] In nahezu wortgenauer Wiedergabe der aristotelischen Anthropologie definiert das Bundesverfassungsgericht das verfassungsrechtliche Menschenbild durch seine Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit.[31] Auch wenn das Grundgesetz keine bestimmte Art der Persönlichkeitsentfaltung priorisiert und rein theoretisch auch Entfaltungsakte in einer unbewohnten Gegend schützt, lässt sich nicht leugnen, dass die Persönlichkeitsentfaltung des Menschen unter den Bedingungen einer globalisierten und digitalisierten Gegenwart in erster Linie durch Kontakte mit seinesgleichen stattfindet.[32] 

Wenn sich die Persönlichkeitsentfaltung selbst durch einen ausgeprägten Gemeinschaftsbezug auszeichnet, so muss dies auf juristischer Ebene auch für grundrechtliche Freiheiten gelten, die dem Schutz der Persönlichkeitsentfaltung dienen. Jedes Grundrecht setzt zwingend den Bestand eines Gemeinwesens voraus, von welchem es eine inhaltliche Ausfüllung und Grenzziehung erfährt; die Gemeinschaft verleiht der Freiheit erst ihre Wirksamkeit.[33] Zwischenmenschliche Kontakte und daraus resultierende Bindungen stellen das tragende Fundament des Gemeinwesens dar, dessen Funktionsfähigkeit von der Mitwirkung jedes einzelnen Mitglieds abhängt. In diesem Zusammenhang lässt sich bereits die den autonomiezentrierten Begründungsansatz des Rechts auf den Freitod stützende Annahme der höchstpersönlichen, staatlicherseits zu respektierenden Natur des Selbsttötungsentschlusses[34] hinterfragen. In einer vom Gemeinschaftsprinzip durchdrungenen Verfassungsordnung wird diese These zumindest relativiert. Zudem ist zu bedenken, dass die Entscheidung für die Selbsttötung und die damit verbundene, einseitig vorgenommene Reduktion des Bindungsbestands zu einer ernst zu nehmenden Existenzgefahr für das auf Kommunikation und Interaktion bauende Gemeinwesen führen kann.

Aus der Gemeinschaftsbindung des Individuums folgt, dass sowohl dem Leben als auch dem Tod eine gesellschaftliche Komponente innewohnt, weshalb die Aussage „Jeder stirbt für sich allein“[35] im grundgesetzlichen Geltungsbereich keine Geltung beanspruchen kann. Zweifellos hat die Selbsttötung des Menschen zunächst beträchtliche nachteilige Auswirkungen auf seinen Verwandtschafts- und Bekanntenkreis, die bisweilen durch mühsame, dauerhafte Verarbeitung bewältigt werden müssen. Darüber hinaus beeinflusst ein derartiger Schritt aber auch die grundgesetzlich konstituierte Rechtsgemeinschaft insgesamt. Der in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zum Ausdruck kommende lebensbejahende Appell[36] wäre seiner Überzeugungskraft und der Staat seiner Glaubwürdigkeit beraubt, wenn das Selbsttötungsbegehren eine hoheitliche Unterstützung erführe. Die gesamtgesellschaftliche Signalwirkung des Rechts auf Leben besteht im Angebot, sich in Situationen der Lebensmüdigkeit an den Staat zu wenden und von diesem geeignete Hilfsvorschläge materieller und immaterieller Art zu erhalten. Die staatliche Förderung des Suizids konterkarierte geradezu die grundgesetzliche Pflicht zum Lebensschutz, weil diese unabhängig davon besteht, ob der Einzelne sein eigenes Leben als schützenswert ansieht oder nicht.[37] Die negative Vorbildwirkung der Aufstellung von, wenn auch eng begrenzten, Ausnahmetatbeständen zulässiger staatlicher Suizidbeihilfe verliehe der Selbsttötung in mittelfristiger Perspektive den der Grundgesetzordnung widersprechenden Schein der Normalität und besäße das Potential zur Stimulierung der gesellschaftlichen Akzeptanz der Selbsttötung. Vor diesem Hintergrund wäre ein quantitativer Anstieg der Anträge auf staatliche Unterstützung der Selbsttötung keine unrealistische Phantasievorstellung,[38] sondern eine konsequente Entfaltung des staatlicherseits gesetzten Impulses.[39] 

Das menschliche Leben in der Orthodoxie: Individualgut, Gemeinschaftswert, Rettungspfad

Die gesellschaftliche Debatte um das menschliche Leben ist facettenreich und höchst aktuell. Zahlreiche Aspekte werden kontrovers diskutiert, es werden überaus unterschiedliche theoretische Konzepte und praktische Lösungsansätze angeboten. Diese Auseinandersetzungen gehen jeden Christen an, denn es geht um den Menschen, das Ebenbild Gottes (Gen. 1:26). Die anthropologische Interessiertheit des Christen liegt in seinem Glauben, mithin im Kern seiner geistigen Natur begründet. Die kürzeste Beschreibung Christi im Neuen Testament lautet schlicht „Ecce Homo“ (Hier, der Mensch!), und einer der bedeutendsten modernen Patrologen, Metropolit Kallistos Ware, bezeichnete die Anthropologie als zentrale Aufgabe für die christliche Theologie des 21. Jh.[40] 

Der einzelne orthodoxe Christ und die Orthodoxe Kirche kommen also nicht umhin, sich im aktuellen Lebensdiskurs zu positionieren. Die Disposition ist klar: es stehen die Vertreter der Auffassung von der unbegrenzten, durch die Menschenwürde und das Recht auf individuelle Selbstbestimmung gedeckten Verfügungsmacht des Menschen über sein Leben nach dem Motto „Mein Leben ist meine (und nur meine) Sache!“ den Anhängern eines gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Menschenbilds gegenüber, welches die Verfügbarkeit des Lebens begrenzt und seinen „Gebrauch“ mit den Gemeinwohlbelangen ins Verhältnis setzt.

Die Orthodoxie kann durch seine Anthropologie den Streit zwischen den „Individualisten“ und den „Kommunitaristen“ schlichten und Probleme beim Umgang mit dem menschlichen Leben lösen helfen. Es ist die einzigartige Verbindung zwischen der Betonung des hohen Werts des Menschen, welcher ihm aufgrund seiner obersten Stellung in der Schöpfungsordnung zukommt, und dem die gesamte orthodoxe Theologie durchdringenden Gemeinschaftsgedanken, die zwischen den Extrempositionen zu vermitteln und Widersprüche in Kompromisse umzuwandeln vermag. Das Vermittlungspotential lässt sich am biblischen Gebot der Nächstenliebe anschaulich demonstrieren: Ein aufopferungsvolles und hilfsbereites Verhalten ist ohne Selbstwertschätzung und Eigenrespekt nicht denkbar, zugleich kann sich die Nächstenliebe einzig in einer Gemeinschaft entfalten. Die Orthodoxie denkt den Menschen ausschließlich gemeinschaftlich: Den Lebensmittelpunkt des orthodoxen Christen bildet die eucharistische Kirchengemeinschaft (ecclesia), die außerhalb des unmittelbar liturgischen Umfelds in anderen Menschengemeinschaften (koinonia) fortlebt, die sich zu gegebener Zeit wiederum zur ecclesia vereinigen. Endziel des menschlichen Lebens, der in diesen unterschiedlichen Gemeinschaften verfolgt wird, ist die Errettung, die als Wiederherstellung der einst verlorenen Gemeinschaft mit Gott verstanden wird.

Nach orthodoxem Verständnis löst sich der Einzelne in der jeweiligen Menschengemeinschaft keineswegs auf, er wird weder zu einem unselbstständigen Vehikel des Gemeinschaftsmechanismus noch zu einem willenlosen Durchleiter des Gemeinschaftswillens. Vielmehr behält er stets sein einzigartiges Ich und leistet seinen ganz besonderen, einzigartigen Beitrag zum Gemeinschaftszweck. Der Wert dieses Beitrags hängt weder vom biologischen Zustand noch vom sozialen Status des Menschen ab, weshalb wertende Abwägungen zwischen den einzelnen Leben per se unzulässig, ja konzeptuell undenkbar sind. Die Gemeinschaft ist auf jeden einzelnen Menschen angewiesen, dessen Lebenszweck sich nur in der Gemeinschaft verwirklichen lässt. Statt Lösungen zugunsten eines Personenkreises auf Kosten eines anderen Personenkreises, wie etwa in Triage-Fällen der Corona-Zeit, befasst sich die Orthodoxie mit Alternativen, in denen die gesamte Gemeinschaft in Ausübung tätiger Nächstenliebe Opfer bringt, Leben rettet und sich dadurch in ihrem inneren (geistigen) Zusammenhalt festigt. Das orthodoxe Lösungsangebot verdient es, in einem Staat mit einer totalitär-menschenverachtenden Vergangenheit und in einer Gesellschaft mit rapide schwindendem Zusammengehörigkeitsgefühl gehört zu werden. Die Suizid-Debatte zeigt den Bedarf effektiv an.


[1] Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) Band 2, S. 1 (12).

[2] BVerfGE 18, 112 (117).

[3] BVerfGE 39, 1 (42).

[4] BVerfGE 39, 1 (59, 67).

[5] BVerfGE 46, 160 (164).

[6] BVerfGE 56, 54 (78).

[7] BVerfGE 90, 145 (184).

[8] So beim Schutz der körperlichen Unversehrtheit BVerfGE 58, 208 (225).

[9] Vgl. BVerfGE 153, 182 ff.

[10] Ibidem, Rn. 203, 209.

[11] Ibidem, Rn. 210 mit Verweis auf BVerfGE 52, 131, 175.

[12] Ibidem, Rn. 211.

[13] Vgl. ibidem, Rn. 221.

[14] Ibidem, Rn. 275.

[15] Ibidem, Rn. 277.

[16] Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE), Band 158, S. 142 (152 f.).

[17] Ibidem 154.

[18] Ibidem 154 f.

[19] Ibidem 157.

[20] Vgl. Udo Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, 1992, S. 98.

[21] Ibidem, S. 107.

[22] Vgl. Matthias Herdegen, in: Günter Dürig/Roman Herzog/Rupert Scholz, Grundgesetz. Kommentar, 88. Ergänzungslieferung (Stand: August 2019), Art. 1 Abs. 1 Randnummer 89.

[23] So Friedhelm Hufen, Selbstbestimmtes Sterben – Das verweigerte Grundrecht, in: Neue Juristische Wochenschrift 2018, 1524-1528 (1525).

[24] Alexander Brade/Björn Tänzer, „Der Tod auf Rezept“? in: Neue Verwaltungszeitschrift 2017, 1435-1439 (1438).

[25] Udo di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 Rn. 47.

[26] Gerd Roellecke, Gibt es ein „Recht auf den Tod“? in: Albin Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie als human- und sozialwissenschaftliches Problem, 1976, S. 336-346 (338); Rudolf Wassermann, Das Recht auf den eigenen Tod, in: Deutsche Richterzeitung 1986, 291-297 (292).

[27] Vgl. Jürgen Schwabe, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, in: Juristenzeitung 1998, S. 66-75 (69).

[28] Dieter Lorenz, in: Wolfgang Kahl/Christian Waldhoff/Christian Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Band 2, Stand: Juni 2012, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Rn. 420.

[29] Aristoteles, Politik, (hrsg. von Eckart Schütrumpf), 2012, 1253a.

[30] Otto Depenheuer, Solidarität und Freiheit, in: Handbuch des Staatsrechts,Band IX, 3. Aufl. 2011, § 194 Rn. 5.

[31] Vgl. BVerfGE 4, 7 (15 f.): „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten“; s. auch Otto Depenheuer (Fn. 68) Rn. 31: „apriorische Gemeinschaftsgebundenheit der Person“.

[32] Hans-Uwe Erichsen, Allgemeine Handlungsfreiheit, in: Handbuch des Staatsrechts, Band VI, 2. Aufl. 1998, § 152 Rn. 8.

[33] Uwe Volkmann, in: Handbuch der Grundrechte, Band II, 2006, § 32 Rn. 2.

[34] So etwa der Deutsche Ethikrat, Suizidprävention statt Suizidunterstützung. Erinnerung an eine Forderung des Deutschen Ethikrates anlässlich einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts. Ad-hoc-Empfehlung, 2017, S. 1.

[35] So der Titel von Hans Falladas Anti-Totalitarismus-Roman aus dem Jahre 1947.

[36] Vgl. BVerfGE 22, 180 (219); 58, 208 (225); 60, 123 (133) sowie Udo di Fabio, Zur Theorie eines grundrechtlichen Wertesystems, in: Handbuch der Grundrechte, Band II, 2006, § 46 Rn. 51.

[37] Christian Hillgruber, Die Erlaubnis zum Erwerb eines Betäubungsmittels in tödlicher Dosis für Sterbenskranke – grundrechtlich gebotener Zugang zu einer Therapie „im weiteren Sinne“? Besprechung von BVerwG, Urteil v. 2.3.2017 – 3 C 19.15, in: Juristenzeitung 2017, S. 777-785 (780).

[38] So Friedhelm Hufen, Selbstbestimmtes Sterben – Das verweigerte Grundrecht, in: Neue Juristische Wochenschrift 2018, 1524 (1526).

[39] Vgl. Nationaler Ethikrat, Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende. Stellungnahme, 2006, S. 31 sowie BT-Drs. 18/5373, S. 11; weitergehend Ulrich Eibach, Aktive Euthanasie und Beihilfe zur Selbsttötung: Ein Menschenrecht? in: Zeitschrift für Lebensrecht 2/2004, S. 38-47 (42), der die Annahme des mutmaßlichen Willens zur Beendigung des „perspektivlosen“ Lebens als nächsten Schritt prognostiziert.

[40] Vgl. Pantelis Kalaitzidis, Foreword, in: Metropolitan Kallistos Ware, Orthodox Theology in the Twenty-First Century, Geneva, 2012, p. 10.

Kommentare


Spendenkonto:

Freundeskreis Kloster des hl. Hiob e.V.

IBAN: DE04 7002 0270 0038 9177 30

BIC: HYVEDEMMXXX

Paypal:

Spende über PayPal tätigen

Abonnieren Sie unseren Newsletter

Vielen Dank für Ihre Nachricht!

  • Weißes Facbook-Symbol
  • Weißes Twitter-Symbol
  • Weißes YouTube-Symbol
  • Weißes Instagram-Symbol

© 2022 Der Bote Online

bottom of page