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Das Archiv der Berliner und Deutschen Diözese der Russischen Auslandskirche – ein Schlüssel zur Geschichte der russischen Orthodoxie in Deutschland

Autor: Kinstler Anatolij Vladimirovich

Wenn ein Forscher sich an den Archivbestand der Deutschen Diözese der Russischen Orthodoxen Kirche wendet, steht er vor einer einzigartigen historischen Situation. Auf dem Gebiet Deutschlands existieren zwei russisch-orthodoxe Berliner und Deutsche Diözesen – und dementsprechend auch zwei getrennte Diözesanarchive, von denen jedes über eine eigene, unverwechselbare Sammlung von Dokumenten verfügt.

Das erste Archiv befindet sich in Berlin und gehört zur Berliner und Deutschen Diözese der Russischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats (MP). Das zweite Archiv wird in München aufbewahrt und ist Eigentum der Berliner und Deutschen Diözese der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland (ROKA). Das Vorhandensein zweier Diözesen ist eine Folge der revolutionären Ereignisse von 1917 – des Zusammenbruchs des Russischen Kaiserreichs, der Massenemigration und der darauffolgenden kirchlichen Spaltung. Die Dokumente des Archivs der Deutschen Diözese der ROKA stellen eine einzigartige Quelle zur Geschichte der russischen Emigration und des Lebens der orthodoxen Diaspora auf dem europäischen Kontinent dar; ihnen ist dieser Artikel gewidmet.

Die Deutsche Diözese der ROKA wurde 1926 gegründet, doch das älteste Dokument ihres Archivs stammt aus dem Jahr 1824. Dieser hundertjährige Abstand wirft berechtigte Fragen auf: Warum besteht ein so großer Unterschied zwischen dem Alter der Diözese und ihren ältesten Archivakten? Wem gehörten diese Dokumente, und wo wurden sie aufbewahrt, bevor sie in das Diözesanarchiv gelangten?

Die Antworten auf diese Fragen liegen in der mehr als 300-jährigen Geschichte der russischen orthodoxen Präsenz auf deutschem Boden. Die Erforschung dieser Geschichte kann Aufschluss über die Entstehung der Dokumentensammlung des Archivs der Deutschen Diözese der ROCOR geben, da ihre ältesten Dokumente Fragmente von Archiven sind, die bereits vor der Bildung der diözesanen Struktur existierten.

Der vorliegende Artikel basiert auf Materialien der Forschungsarbeit des Autors, die in der deutschsprachigen Publikation „Archiv der Deutschen Diözese im Kontext der Geschichte“ in der Zeitschrift des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen „Archivar“ veröffentlicht wurde [1].

Eine weitere Grundlage bildete der Vortrag über das Archiv der Deutschen Diözese der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland, den der Autor am 25. November 2024 im Rahmen des Kurses „Quellen zur Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts“ für Masterstudenten des Sankt-Philaret-Instituts (Moskau) hielt. Obwohl die Geschichte des Archivs der Deutschen Diözese bisher noch nicht Gegenstand einer eigenständigen monographischen Untersuchung war, wurden einzelne Dokumentenkomplexe bereits erforscht. Als Beispiel kann der 2015 veröffentlichte Artikel „Das baltische orthodoxe Thema im Archiv der Deutschen Diözese“ genannt werden, der Quellen zur Geschichte der Orthodoxen Kirche in Estland, Lettland und Litauen, die in diesem Archiv aufbewahrt werden, in den wissenschaftlichen Umlauf eingeführt hat [2]. Dies unterstreicht das bedeutende wissenschaftliche Potenzial des Bestands und die Möglichkeiten seiner weiteren Erforschung.

Der Beginn der russischen Orthodoxie in Deutschland: Dynastische Verbindungen und die ersten Kirchen

Die Geschichte der russischen orthodoxen Präsenz in Deutschland reicht über drei Jahrhunderte zurück und begann durch dynastische Verbindungen. Bereits im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts, als Ehen zwischen Vertretern deutscher Fürstenhäuser und der russischen Zarenfamilie geschlossen wurden, entstanden die ersten orthodoxen Kirchen und Kapellen für russische Bräute.

So wurde im Jahr 1716 in der Residenz des Herzogs Karl Leopold von Mecklenburg-Schwerin (1678–1747) eine Kirche für seine Gemahlin, die Zarentochter Katharina Ioannowna (1691–1733), Nichte des Zaren Peter I., errichtet.

Manchmal errichteten deutsche Könige und Herzöge prachtvolle Kirchen zum ewigen Gedenken an ihre russischen Ehefrauen – als Ausdruck tiefer Zuneigung. Ein Beispiel dafür ist die majestätische Grabeskirche der heiligen Großmärtyrerin Katharina in Stuttgart-Rotenberg, die König Friedrich Wilhelm I. von Württemberg (1781–1864) in den Jahren 1820–1824 zum Gedenken an seine Gemahlin Katharina Pawlowna (1788–1818), Tochter des russischen Kaisers Paul I., erbauen ließ.

In den Jahren 1847–1855 ließ Herzog Adolf Wilhelm von Nassau (1817–1905) in Wiesbaden zum Gedenken an seine verstorbene Gemahlin Elisabeth Michailowna (1826–1845) die Kirche der heiligen rechtschaffenen Elisabeth errichten. Diese Kirche zählt zu den architektonischen Juwelen und Sehenswürdigkeiten Wiesbadens.

Kirche der hl. Elisabeth, Wiesbaden.
Kirche der hl. Elisabeth, Wiesbaden.

Gesandtschafts- und Kurkirchen: Die Ausweitung der russischen orthodoxen Präsenz im 19. Jahrhundert

Die dynastischen Verbindungen ebneten den Weg für die Festigung diplomatischer Beziehungen. Für die seelsorgerischen Bedürfnisse russischer Diplomaten und Botschaftsangehöriger entstanden in den Hauptstädten der deutschen Fürstentümer sogenannte „Gesandtschaftskirchen“. Diese Kirchen, die dem Außenministerium des Russischen Kaiserreichs und dem Heiligen Synod unterstanden, wurden zu kleinen Inseln der russischen Orthodoxie.

Im 19. Jahrhundert gewann die russische Präsenz jedoch eine neue Dimension: Für Mitglieder der kaiserlichen Familie, für die russische Aristokratie sowie für die kulturelle und wissenschaftliche Elite Russlands wurde es zur Tradition, deutsche Kurorte zur Heilung und Erholung zu besuchen. Solche Aufenthalte dauerten oft mehrere Monate. In einem Kurort konnten sich gleichzeitig mehrere Hundert bis mehrere Tausend Russen aufhalten. So kamen beispielsweise im Jahr 1906 allein nach Wiesbaden 7 500 Besucher aus Russland.

In Deutschland wurden Russen geboren, getauft, getraut und beerdigt. Zwar konnten die „Gesandtschaftskirchen“ die Registrierung dieser Ereignisse übernehmen und die Sakramente der Taufe und Trauung spenden, doch konnten sie die tiefe Religiosität der russischen Gesellschaft nicht vollständig befriedigen. Zum einen befanden sich die Gesandtschaftskirchen meist in den Räumen der Botschaften und waren ursprünglich nicht für größere öffentliche Gottesdienste vorgesehen. Zum anderen lagen die Botschaften in den Hauptstädten der deutschen Fürstentümer, was es für russische Reisende erschwerte, orthodoxe Gottesdienste dort zu besuchen.

Dieses Problem wurde durch den Bau russischer orthodoxer Kirchen in deutschen Kurorten gelöst. Zu den bekanntesten gehören: die Kirche der heiligen Märtyrerin, der Zarin Alexandra, in Bad Ems (1876),  die Verklärungskirche in Baden-Baden (1882),  die Kirche des heiligen Sergius von Radonesch in Bad Kissingen (1901).

Mit dem Bau dieser Kirchen erhielt die russische Kultur in Deutschland einen neuen Entwicklungsschub.

Kirche der hl. Märtyrerin Zarin Alexandra, Bad Ems.
Kirche der hl. Märtyrerin Zarin Alexandra, Bad Ems.

Das dokumentarische vorrevolutionäre Erbe

Die weitere Entwicklung der russisch-deutschen Beziehungen wurde durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 unterbrochen. Der Zustrom russischer Touristen nach Deutschland kam nahezu vollständig zum Erliegen. Russische Kirchen wurden geschlossen und geplündert. Der Klerus war gezwungen, das Land zu verlassen und die Kirchen samt ihrem Besitz dem Schicksal zu überlassen. Eines der tragischsten Beispiele für den Verlust kulturellen Erbes war die Plünderung des Hauses des Kaisers Alexander III. in Tegel im Jahr 1914 [3]. Dieses Kulturzentrum, das durch die Bemühungen von Erzpriester Alexei Malzew gegründet worden war, beherbergte die umfangreiche Bibliothek der Bruderschaft des Heiligen Fürsten Wladimir sowie die einzigartigen Sammlungen des Museums der Russischen Geschichte und der Russischen Kirche in Deutschland. Der Verlust dieser unschätzbaren Bestände wurde zu einer der ersten und bittersten Folgen des Krieges für die russisch-orthodoxe Präsenz auf deutschem Boden. Auch das Gebäude der russischen Botschaft in Berlin wurde verwüstet, wobei wahrscheinlich auch Archivdokumente der Botschaft, darunter kirchliche Unterlagen, vernichtet wurden.

Innenraum der russ. Gesandschaftskirche in Berlin, ca. 1900.
Innenraum der russ. Gesandschaftskirche in Berlin, ca. 1900.

Die Hauptdokumentation der sogenannten „Gesandtschaftskirchen“ bis 1917 blieb dennoch erhalten, da sie sowohl im Archiv des Außenministeriums des Russischen Kaiserreichs als auch im Synodalarchiv der Russischen Orthodoxen Kirche in Sankt Petersburg aufbewahrt wurde. Heute befindet sich der Großteil dieser Dokumente, die das Leben der Gesandtschaftskirchen betreffen, im Archiv der Außenpolitik des Russischen Kaiserreichs (AVPRI) des Außenministeriums der Russischen Föderation in Moskau, während die Bestände des Synodalarchivs im Russischen Staatlichen Historischen Archiv (RGIA) in Sankt Petersburg lagern. Leider haben sich die Unterlagen der vorrevolutionären Kirchen, die in Deutschland verblieben, nur fragmentarisch erhalten, da viele von ihnen im Strudel von Krieg und Revolution verloren gingen. Dies verleiht den russischen Archiven umso größeren Wert für die Erforschung dieser Epoche.

Das kirchliche Leben der russischen Emigration: Vom „russischen Berlin“ bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten

Die Situation änderte sich nach der Revolution in Russland im Jahr 1917. Millionen von Russen waren gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. In Deutschland befanden sich etwa 1.250.000 ehemalige russische Staatsbürger. An die Stelle des vorrevolutionären „russischen Wiesbaden“ trat in den 1920er Jahren das Phänomen des „russischen Berlin“, wo sich das kulturelle und wissenschaftlich-akademische Leben aktiv entwickelte. Berlin wurde zum Anziehungspunkt der Emigration: „Auf dem Höhepunkt des „russischen Berlin“ im Jahr 1923 könnten sich in der deutschen Hauptstadt mehr als 350.000 ehemalige Untertanen des Zaren befunden haben.“[4]

Diese Ereignisse konnten sich nicht ohne Einfluss auf das kirchliche Leben der russischen Emigration auswirken. Trotz der schwierigen Bedingungen der Nachkriegs- und Nachrevolutionskrise in Deutschland begann das kirchliche Leben wieder aufzublühen – allerdings unter völlig neuen Umständen, da die finanzielle Unterstützung aus Russland vollständig eingestellt wurde. Bis 1917 erhielten die orthodoxen Kirchen in Deutschland staatliche oder private finanzielle Mittel. Nach dem Sturz der Monarchie und der Machtübernahme durch die Bolschewiki versiegten diese Geldquellen. Die bolschewistische Regierung nahm von Beginn an eine feindliche Haltung gegenüber der Religion und der Russisch-Orthodoxen Kirche ein. Durch einen Regierungsdekret wurde die Kirche vom Staat getrennt. Kirchen und Klöster in Sowjetrussland wurden geplündert und zerstört, Geistliche und Gläubige verfolgt. Mehrfach wurde das Oberhaupt der Russischen Kirche, Patriarch Tichon (Bellavin), verhaftet. Der Metropolit von Sankt Petersburg, in dessen Zuständigkeit sich vor der Revolution alle kirchlichen Auslandsinstitutionen befanden, hatte keine Möglichkeit mehr, die orthodoxen Gemeinden außerhalb Russlands zu leiten.

Im Jahr 1919, während des Bürgerkriegs und der fehlenden Verbindung mit dem kirchlichen Zentrum in Moskau, entstand im Südosten Russlands, der noch nicht von den Bolschewiki kontrolliert wurde, eine Höhere Vorläufige Kirchenverwaltung. Diese Verwaltung übernahm die Verantwortung nicht nur für innerkirchliche Fragen des Südostens Russlands, sondern auch für Angelegenheiten der kirchlichen Diaspora außerhalb Russlands. Nach der Evakuierung von der Krim nach Konstantinopel im Jahr 1920 hielt die Höhere Vorläufige Kirchenverwaltung am 6. November 1920 eine Sitzung ab, die den Beginn der russischen Auslandskirchenverwaltung markierte.[5]

Bischof Tichon (Ljaschenko), erster Diözesanbischof der Deutschen Diözese.
Bischof Tichon (Ljaschenko), erster Diözesanbischof der Deutschen Diözese.

Am 23. Oktober 1920 beschloss die Verwaltung, dass alle russischen Kirchen im Ausland ihrer Leitung unterstellt seien, bis eine Verbindung mit dem Moskauer Patriarchen wiederhergestellt werden könne. Bereits am 1. Oktober 1920 hatte sie Erzbischof Jewlogij (Georgijewski) zum Leiter der Kirchen in Westeuropa ernannt – eine Ernennung, die Patriarch Tichon am 8. April 1921 bestätigte. Zu Jewlogijs Zuständigkeitsbereich gehörten auch die Kirchen in Deutschland. In den Jahren 1921–1922 lebte er in Berlin, bevor er Ende 1922 seinen Verwaltungssitz nach Paris verlegte. 1924 wurde innerhalb der Russischen Auslandskirche (ROKA) ein deutsches Vikariat gegründet, das Metropolit Jewlogij unterstellt war und vom Berliner Bischof Tichon (Laschtschenko) geleitet wurde. Die Beziehungen zwischen Metropolit Jewlogij und der Bischofssynode der ROKA verschärften sich allmählich aufgrund der Ansprüche Jewlogijs auf die volle kirchliche Autorität in Westeuropa. Im Juni 1926 wandelte die Bischofssynode das deutsche Vikariat in eine selbständige Diözese um – einer der Gründe für den Bruch zwischen Jewlogij und der Synode. Bischof Tichon und ein Teil des Klerus blieben der ROKA treu, während in Jewlogijs Obhut einige orthodoxe Gemeinden in Deutschland verblieben. Metropolit Jewlogij blieb eine Zeit lang in der Jurisdiktion der Moskauer Kirchenleitung, akzeptierte deren Politik der Loyalität gegenüber der sowjetischen Regierung jedoch nur mit Vorbehalten. 1931 wechselte er in die Jurisdiktion des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel und kehrte 1945, kurz vor seinem Tod, wieder in die Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats zurück.

Die ROKA verstand sich als freier Teil der Russischen Landeskirche und unterstand der Kirche in Moskau nur de jure. 1927, nach der Veröffentlichung der bekannten Loyalitätserklärung der Moskauer Kirchenleitung gegenüber der Sowjetregierung, löste sich die ROKA endgültig aus der administrativen Unterordnung unter Moskau, da sie diese Haltung als unannehmbar betrachtete und betonte, dass die Moskauer Patriarchie unter sowjetischen Bedingungen nicht frei handeln könne.

Die Lage der orthodoxen Gemeinden in Deutschland in den 1930er–1940er Jahren

Die Haltung der 1933 in Deutschland an die Macht gekommenen Nationalsozialisten gegenüber den russisch-orthodoxen Gemeinden war widersprüchlich. Das lag an den unterschiedlichen Auffassungen der verschiedenen Behörden des NS-Regimes. Die 1935 gegründete Reichskirchenabteilung verfolgte gegenüber der Kirche eine eher gemäßigte Politik. Die NSDAP und die Gestapo hingegen befürworteten die Abschaffung der Kirche und neigten zu radikalen, repressiven Maßnahmen. Die Reichskirchenabteilung sah in der Kirche ein mögliches Instrument politischer und propagandistischer Zwecke. Man ging davon aus, dass eine Unterstützung der Kirche die Beziehungen zu Ländern mit starker orthodoxer Prägung (z. B. Bulgarien, Rumänien) verbessern und sie in den  antibolschewistischen Block einbeziehen könnte. Außerdem erhoffte man sich, dass die Unterstützung orthodoxer Gemeinden in Deutschland künftig die Stimmung der sowjetischen Bevölkerung beeinflussen könnte, die in der UdSSR unter Religionsverfolgung litt. Zu diesem Zweck betrieb das Ministerium eine Politik der Vereinheitlichung der russisch-orthodoxen Gemeinden in Deutschland. Ziel war die Vereinigung aller orthodoxen Gemeinden in einer Struktur, deren organisatorisches Zentrum die deutsche Diözese der ROKA sein sollte – die konservativste, zahlreichste und entschieden antikommunistische Gruppierung.[6]

Die Kathedralkirchen Jesu Auferstehung in Berlin. Links: die erste Kathedrale, die 1928 eröffnet wurde. Rechts: die zweite Kathedrale, die 1938 eingeweiht wurde.
Die Kathedralkirchen Jesu Auferstehung in Berlin. Links: die erste Kathedrale, die 1928 eröffnet wurde. Rechts: die zweite Kathedrale, die 1938 eingeweiht wurde.

Nach mehreren Jahren der Verhandlungen und des Drucks auf die Gemeinden Metropolit Jewlogijs konnte nur ein begrenzter Kompromiss erzielt werden: diese Gemeinden wurden der deutschen Diözese der ROKA administrativ unterstellt, behielten jedoch ihre Selbstständigkeit und ihre Verbindung zum kirchlichen Zentrum in Paris. Im Rahmen der politischen Instrumentalisierung der Russischen Kirche gewährten die Nationalsozialisten 1936 der deutschen Diözese der ROKA den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, unterstützten 1936–1938 den Bau der Kathedrale der Auferstehung Christi in Berlin und erarbeiteten 1938 das Gesetz „Über den Grundbesitz der Russisch-Orthodoxen Kirche in Deutschland“. Die Russische Kirche erkannte jedoch die antichristliche Natur des Nationalsozialismus und ließ sich von diesen Privilegien nicht täuschen. Ihr Ziel war es, unter der Diktatur des NS-Regimes zu überleben und weiterhin von Christus zu zeugen.

Mit Beginn des Krieges zwischen Deutschland und der UdSSR 1941 verschlechterte sich die Lage der deutschen Diözese der ROKA erheblich. Zwar versuchte die Reichskirchenabteilung, die widersprüchlichen Positionen innerhalb des Regimes abzumildern, doch setzten sich zunehmend die restriktiven Haltungen der NSDAP und des Reichssicherheitshauptamts durch. Der Diözese wurde verboten, ein theologisches Institut zu eröffnen oder sowjetischen Kriegsgefangenen und ehemaligen Landsleuten in den besetzten Gebieten Hilfe zu leisten. Einige Priester riskierten ihr Leben, indem sie illegal Kriegsgefangenenlager besuchten und dort materielle und seelsorgerische Hilfe leisteten. Geistliche, die aktiv helfen wollten, wurden von der Gestapo verhört. Ab 1942 wurden zahlreiche Zivilisten aus den besetzten sowjetischen Gebieten als sogenannte „Ostarbeiter“ nach Deutschland gebracht. Für sie wurden separate Lager eingerichtet, in die der Zugang einfacher war. Die Betreuung dieser Ostarbeiter wurde zu einer wichtigen Aufgabe der deutschen Diözese. Ihre Gemeindezahl wuchs stark an. Im selben Jahr wurde die deutsche Diözese in den mitteleuropäischen Metropolbezirk umgewandelt, der von Metropolit Serafim (Lade), einem Deutschen, geleitet wurde. Dieser Bezirk umfasste russisch-orthodoxe Gemeinden in Deutschland, im Protektorat Böhmen und Mähren, in Belgien, der Slowakei und Luxemburg.

In den tragischen Kriegsjahren leistete die deutsche Diözese vielfältige Hilfe für ihre Landsleute – Kriegsgefangene, Ostarbeiter und Flüchtlinge aus der UdSSR. Nach dem russischen Historiker M. W. Schkarowski wurde diese Hilfe von vielen Kirchenvertretern als Form des Widerstands gegen das NS-Regime betrachtet.[7]

Mehrere Geistliche und Laien der deutschen Diözese wurden während des Krieges von den Nationalsozialisten hingerichtet, darunter die bekannten Antifaschisten Liana Berkovets (1923–1943) aus der Gruppe „Rote Kapelle“ und Alexander Schmorell (1917–1943) aus der Gruppe „Weiße Rose“.[8] Sie verfassten und verbreiteten antifaschistische Flugblätter. Alexander Schmorell war Mitglied der Münchener orthodoxen Gemeinde des hl. Nikolaus der deutschen Diözese der ROKA. 2012 wurde er von der Russisch-Orthodoxen Kirche als Heiliger Märtyrer kanonisiert. Im Protektorat Böhmen und Mähren wurden der Prager Bischof Gorazd (Pavlik) und mehrere orthodoxe Priester wegen der Unterstützung der Attentäter auf den SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, hingerichtet.

Die deutsche Diözese – von der Emigration zur neuen Diaspora

Nach der Niederlage im Krieg wurde Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt – eine sowjetische mit Zentrum in Berlin sowie eine amerikanische, britische und französische Zone. Die deutsche Diözese schrumpfte auf das Gebiet Westdeutschlands und verlor fast alle Kirchen, darunter auch die Berliner Kathedrale, die sich in der sowjetischen Zone befand. Der Sitz der Diözese wurde nach München verlegt. In den Jahren 1945–1950 wurde Deutschland zum provisorischen Verwaltungszentrum der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland (ROKA), nachdem der Bischofssynod aus Jugoslawien dorthin evakuiert worden war. Seit 1950 befindet sich der Synod in New York. 1946 schlossen sich der ROKA die während des Krieges nach Deutschland evakuierten Bischöfe und Geistlichen der weißrussischen und ukrainischen orthodoxen Kirchen an. Einige weißrussische und ukrainische Bischöfe übernahmen die Leitung von Vikariaten innerhalb der deutschen Diözese.

Neben der Aufgabe, das kirchliche Leben im Nachkriegsdeutschland wiederaufzubauen und die durch Bombenangriffe beschädigten Kirchen zu reparieren, widmete die deutsche Diözese ihre Hauptaufmerksamkeit den Bedürfnissen der sogenannten „displaced persons“ (Heimatvertriebenen). Tausende dieser Menschen wurden dank des Einsatzes orthodoxer Priester vor der Auslieferung an die sowjetischen Behörden gerettet. In den Lagern der Vertriebenen gründete die Diözese zahlreiche Kirchengemeinden, eröffnete Schulen und Gymnasien für Kinder und bildete Hilfskomitees für besonders Bedürftige. Die russischen Schulen und Gymnasien wurden von den Regierungen der deutschen Länder den deutschen Bildungseinrichtungen gleichgestellt. Gegen Ende der 1940er Jahre begann die Zahl der Vertriebenen in Deutschland zu sinken. Die deutsche Diözese unterstützte die Auswanderer bei der Wiederbeschaffung und Ausstellung von Dokumenten und organisierte Umsiedlungskomitees. Mit der Emigration der Vertriebenen aus Deutschland verringerte sich die Zahl der Gläubigen in der Diözese erheblich – eine Tendenz, die auch in den folgenden Jahrzehnten anhielt.

Kirche des hl. Erzengel Michael in München-Schleißheim Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre als Kathedralkirche der Deutschen Diözese. Bildmaterial aus dem Archiv der DD.
Kirche des hl. Erzengel Michael in München-Schleißheim Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre als Kathedralkirche der Deutschen Diözese. Bildmaterial aus dem Archiv der DD.

Eine Veränderung trat Ende der 1980er Jahre ein, als sogenannte „Russlanddeutsche“ – Nachkommen deutscher Siedler, die im 18.–19. Jahrhundert aus Deutschland nach Russland ausgewandert waren – nach Deutschland zurückkehrten. Einige von ihnen stammten aus gemischten Familien und waren bereits orthodox, viele aber fanden ihren Weg zum Glauben erst in Deutschland. Siebzig Jahre antireligiöser Propaganda in der Sowjetunion hatten deutliche Spuren hinterlassen, sodass die deutsche Diözese die Aufgabe hatte, die neuen Gläubigen im Geiste der christlichen Tradition neu zu erziehen und zu unterweisen, die die Russische Orthodoxe Kirche im Ausland bewahrt hatte.

Seit 1946 existiert neben der deutschen Diözese der ROKA auch die deutsche Diözese des Moskauer Patriarchats. Ihre Struktur und Bezeichnung änderten sich im Laufe der Geschichte mehrfach. Wie bereits erwähnt, hatte die Russische Orthodoxe Kirche im Ausland 1927 die kirchliche Gemeinschaft mit dem Moskauer Patriarchat abgebrochen. 1993 wurden Vertreter beider deutschen Diözesen zu Initiatoren eines Dialogs, der von 1993 bis 1997 in Form von Begegnungen der Kleriker beider Diözesen in Deutschland stattfand. Dieser Dialog war ein wichtiger Schritt im Prozess der Überwindung der kirchlichen Spaltung und der Wiederherstellung der Einheit der Russischen Kirche. Im Jahr 2007 unterzeichneten die Vorsteher der Russischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats und der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland in Moskau einen Akt über die Wiederherstellung der kanonischen Gemeinschaft. Die Russische Orthodoxe Kirche im Ausland ist seither eine selbstverwaltete Kirche innerhalb des Moskauer Patriarchats.

Die Geschichte des Archivs ist untrennbar mit den neuen Zentren des kirchlichen Lebens verbunden, die nach dem Krieg entstanden. Seit 1982 wird die deutsche Diözese der ROKA von Metropolit Mark (Arndt) geleitet, dessen Residenz sich im Männerkloster des heiligen Ijob von Potschajew in München befindet (gegründet 1945). In diesem Kloster – ebenso wie im Frauenkloster der heiligen Märtyrerin Elisabeth (gegründet 2005 in Buchendorf) – wird heute ein bedeutender Teil der Archivbestände aufbewahrt. Diese Klöster sorgen zusammen mit der Diözesanverwaltung für die Bewahrung des historischen Erbes, das bis heute weiterwächst.

Die Diözese umfasst etwa achtzig orthodoxe Gemeinden, in denen mehr als achtzig Priester und Diakone tätig sind. Sie engagiert sich aktiv in der Verlagsarbeit sowie in der Übersetzung orthodoxer Literatur und liturgischer Texte ins Deutsche.

Diözesanarchiv: Entstehung, historische Herausforderungen und Verluste

Der Archivbestand der Deutschen Diözese der Russisch-Orthodoxen Kirche im Ausland (ROKA) stellt eine umfassende Sammlung von Dokumenten dar, die alle Aspekte ihrer Tätigkeit widerspiegelt. Er umfasst die Materialien der Kanzlei des regierenden Bischofs der Berliner Deutschen Diözese, die Archive der Vikariate und der Weihbischöfe, die Unterlagen aller Gemeinden und Klöster der Diözese sowie die Archive orthodoxer Bruderschaften, Schwesternschaften und anderer orthodoxer Vereinigungen innerhalb der Diözese. Ein zentraler Bestandteil des Archivbestands der Deutschen Diözese ist das Diözesanarchiv, das die wichtigsten historischen Dokumente der Diözese sammelt. Die Deutsche Diözese besitzt Autonomie in Fragen der Organisation der Aufbewahrung, Erfassung und Nutzung ihres Archivbestandes. Dies ermöglicht ihr, eine eigene Archivpolitik festzulegen, und überträgt ihr zugleich die Verantwortung für die Bewahrung und Zugänglichkeit dieses wertvollen historischen Erbes.

In der Regel entstehen Diözesanarchive aus den Unterlagen der Kanzlei des regierenden Bischofs, die mit der Zeit ihre unmittelbare Aktualität verlieren. Jegliche Erinnerung – auch die kirchliche – entsteht aus dem alltäglichen Handeln. Berichte, Gesuche, Meldungen und Erlasse, die im Rahmen der administrativen Leitung der Diözese erstellt werden, dienen zunächst einem konkreten, praktischen Zweck. Sobald dieses Ziel erreicht ist – zum Beispiel, wenn ein Antrag bewilligt oder ein Bericht eingereicht wurde – hört das Dokument auf, Teil der laufenden Verwaltung zu sein. Mit der Zeit verändert sich die Relevanz der Dokumente allmählich: Über einen gewissen Zeitraum hinweg können sie weiterhin einen Referenz- oder Hilfswert behalten. Erst wenn diese Dokumente nicht mehr Teil der aktuellen Arbeit sind, erhalten sie eine neue Existenz, indem sie zu Quellen für historische Forschung werden.

So ist die Diözesankanzlei auch ein Ort, an dem die Umwandlung des Wertes von Dokumenten stattfindet. Dies gilt in vollem Maße für die Kanzlei des regierenden Bischofs der Deutschen Diözese, deren eigener Schriftverkehr mit der Gründung der Diözese im Jahr 1926 begann. Es ist wichtig zu beachten, dass die Dokumente des Deutschen Vikariats (1924–1926) überwiegend im Zentrum des westeuropäischen Metropolitenbezirks in Paris gesammelt wurden, der von Metropolit Eulogius (Georgijewskij) geleitet wurde. Das Archiv dieses Metropolitenbezirks wird derzeit an das Nationalarchiv Frankreichs übergeben. Gleichzeitig wurden Fragmente des vorrevolutionären Erbes weiterhin direkt in den Gemeinden in Deutschland aufbewahrt. Von 1926 bis 1945 befanden sich die Residenz des regierenden Bischofs von Berlin und Deutschland sowie das Kanzleiamt des Oberhauptes der Diözese in Berlin. Genau hier entstand im Zuge der täglichen Arbeit das Diözesanarchiv. Eine frühe Erwähnung des Archivs der Deutschen Diözese der Russisch-Orthodoxen Kirche im Ausland und seines Zustands stammt aus dem Jahr 1942. Als der Sekretär der Diözese, P. S. Sadowskij, am 27. September 1942 im Auftrag von Metropolit Seraphim (Lade) die Kellerräume der Berliner Auferstehungskathedrale in Ordnung brachte, berichtete er dem Bischof, dass sich das Archiv in einem „schrecklichen Zustand“[9] befinde. Dies war durch die äußerst ungünstigen Lagerungsbedingungen der wertvollen Dokumente bedingt. Er stellte fest, dass die Archivmaterialien in den Kellerräumen der Kathedrale, die erst 1938 errichtet worden war, schädlichen Einflüssen wie Feuchtigkeit und Schädlingen – insbesondere Mäusen – ausgesetzt waren. Ein ähnliches Schicksal ereilte auch die Diözesanbibliothek, die im selben Raum aufbewahrt wurde.

Der Sekretär schlug dem Bischof vor, den Zustand des Archivs durch eine Prüfungskommission kontrollieren und dokumentieren zu lassen. Dieser Umstand ist ein wichtiges Zeugnis für die Existenzbedingungen des Archivs der Deutschen Diözese während des Zweiten Weltkriegs und weist auf die Notwendigkeit eines kritischen Umgangs mit Quellen aus dieser Zeit hin. Ebenso verweist er auf mögliche Lücken in den Archivbeständen, die durch den schlechten Zustand der Dokumente verursacht wurden.

Die letzten Apriltage des Jahres 1945 brachten eine neue Bedrohung für die Bewahrung des historischen Gedächtnisses der Deutschen Diözese. Am 23. April, nur zwei Tage bevor die Rote Armee mit dem entscheidenden Sturm auf die Hauptstadt des nationalsozialistischen Deutschlands begann, sahen sich Archimandrit Nathaniel (Lwow), der Vorsteher der Berliner Kathedrale, und der Hieromönch Vitalij (Ustinow) gezwungen, die Stadt eilig zu verlassen. Unter den Bedingungen des herannahenden Chaos und der Kampfhandlungen war ein Abtransport der Dokumente des Diözesanarchivs unmöglich.

Metropolit Seraphim (Lade). Die Ablichtung hat der Metropolit seinem Hypodiakon N.N. Stulow geschenkt. Bildmaterial aus dem Archiv der DD, Fond N.N. Stulow.
Metropolit Seraphim (Lade). Die Ablichtung hat der Metropolit seinem Hypodiakon N.N. Stulow geschenkt. Bildmaterial aus dem Archiv der DD, Fond N.N. Stulow.

Einer der Sekretäre der Deutschen Diözese, Igumen Georgij (Sokolow), bezeugte 1955: „Erstens hat der verstorbene Bischof Seraphim keinerlei Diözesanarchiv ausgeführt, und er hatte auch gar keine Möglichkeit dazu, denn gemäß den damaligen Ausreisebestimmungen konnte er nur eine sehr bescheidene Menge seiner persönlichen Dinge mitnehmen.“[10] Die in dem vom Krieg erschütterten Berlin ihrem Schicksal überlassenen wertvollsten Materialien gerieten so in Gefahr, vollständig vernichtet oder verloren zu werden – was ein weiteres tragisches Kapitel ihrer Erhaltung darstellt.

Nach dem Krieg gelangten die Kirchen der Deutschen Diözese der Russisch-Orthodoxen Kirche im Ausland in Potsdam, Dresden und Leipzig sowie die Berliner Kathedralkirche und ein Teil ihres Klerus in die Zuständigkeit des Moskauer Patriarchats. Dementsprechend wurde auch das zuvor in Berlin aufbewahrte Archiv der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland künftig Teil der Bestände der Deutschen Diözese des Moskauer Patriarchats. Das Verwaltungszentrum der Deutschen Diözese der Russisch-Orthodoxen Kirche im Ausland wurde nach München verlegt.

Von diesem Zeitpunkt an wurde der Schriftverkehr der Diözese nahezu vollständig dokumentiert und ist mit nur minimalen Verlusten bis in unsere Zeit erhalten geblieben. Dies war das Ergebnis der Wiederbelebung der Archivarbeit in der Diözese, worauf auch der Vermerk „ins Archiv“ auf Dokumenten aus der zweiten Hälfte der 1940er Jahre hinweist.

Eine Erwähnung des Archivs des Vikarbischofs des Norddeutschen Vikariats mit Sitz in Hamburg, Athanasij (Martos), stammt aus dem Jahr 1950. Das Norddeutsche Vikariat war 1946 vom Bischofssynod der Russisch-Orthodoxen Kirche im Ausland eingerichtet worden. Bei seiner Abreise zu einem neuen Dienstort in Australien schrieb Bischof Athanasij am 2. Mai 1950 an Metropolit Seraphim (Lade):

„In dem erwähnten Bericht habe ich vergessen, Ihnen bezüglich des Archivs und der Finanzunterlagen zu schreiben. … Ich fragte Sie, wie ich mit dem Archiv und dem Einnahme-Ausgabebuch verfahren solle, und Sie rieten mir, dies zu vernichten, falls es keinen besonderen Wert darstellt. Eigentlich habe ich es auch so gemacht. … Mein Archiv bestand aus laufender, wenig bedeutender und bereits nicht mehr aktueller Korrespondenz mit Priestern und verschiedenen Personen. Diese Korrespondenz hatte einen halb privaten Charakter. Vor meiner Abreise aus Hamburg habe ich sie vernichtet, da sie keinerlei Bedeutung hatte. Nur wichtigere Briefe und Kopien aktueller Ernennungsdekrete habe ich zurückgelassen. Die Personalunterlagen der Priester und die Weiheakten habe ich anvertraut, Ihnen zu übergeben. Diese Dokumente sollen im Diözesanarchiv aufbewahrt werden.“ [11]

Die von Bischof Athanasij erwähnten Personalunterlagen der Priester und die Weiheakten fehlen im Diözesanarchiv. Dieser Abschnitt ist ein anschauliches Beispiel dafür,  wie reale historische Umstände (Nachkriegszeit, fehlende Archivrichtlinien, „Pragmatismus“ des Klerus) die Bildung und den Erhalt kirchlicher Archive beeinflussten. Er zeigt den dezentralisierten Umgang mit Dokumentation auf der Ebene der Vikariate, der zu unwiederbringlichen Verlusten eines Teils des historischen Erbes führte – insbesondere jener Teile, die aus Sicht der aktuellen Kirchenverwaltung nicht als „wichtig“ galten. Gleichzeitig wird darin das Bewusstsein für die Notwendigkeit betont, die wertvollsten Materialien zur langfristigen Aufbewahrung dem Diözesanarchiv zu übergeben.

Praktisch während der gesamten Geschichte der Deutschen Diözese wurden die Aufgaben der Archivmitarbeiter von den Diözesansekretären übernommen, deren Hauptaufgabe in der Unterstützung der laufenden administrativen Tätigkeit der Diözese bestand. Für den Sekretär war das Archiv nicht die wichtigste Aufgabe, sondern eher eine nebengeordnete, die jedoch Aufmerksamkeit erforderte. Unter den Bedingungen des Nachkriegschaos, fehlender Finanzierung und mangelnder Fachkenntnisse hing die Bewahrung der Dokumente von der persönlichen Initiative, der Verantwortlichkeit und zu einem gewissen Grad auch der Intuition dieser Menschen ab.

Diese Situation macht das Archiv nicht nur zu einem Aufbewahrungsort, sondern zu einem Spiegel der Schicksale und Bemühungen konkreter Personen. Jedes Dokument, das bis in unsere Zeit erhalten blieb, ist ein Zeugnis ihres selbstlosen Einsatzes. Sie erkannten den Wert dieser Unterlagen, bewahrten sie vor Feuchtigkeit und Schädlingen, vor Vernichtung und Vergessen, weil sie in ihnen nicht einfach „alte Papiere“, sondern die lebendige Geschichte der Kirche und der Menschen sahen, die sie prägten. Somit ist die Erhaltung des Archivs der Deutschen Diözese nicht das Ergebnis einer planmäßigen und systematischen Arbeit, sondern vielmehr eine Geschichte darüber, wie der menschliche Faktor und persönliche Hingabe es ermöglichten, Schwierigkeiten zu überwinden und ein unschätzbares Erbe für zukünftige Generationen zu bewahren.

Trocknung der Archivdokumente im Kloster des hl. Hiob von Počaev. 2009, München. Archiv des Autors.
Trocknung der Archivdokumente im Kloster des hl. Hiob von Počaev. 2009, München. Bildmaterial aus dem Archiv des Autors.

Der langwierige und mühevolle Prozess der Systematisierung des Archivs der Deutschen Diözese wurde im Jahr 2009 begonnen und dauert bis heute an. Derzeit wird an der Inventarisierung, Katalogisierung und wissenschaftlichen Erschließung der Dokumente gearbeitet, um sie für Forschende zugänglich zu machen.

Damit stellt die Geschichte des Archivbestands der Deutschen Diözese der Russischen Auslandskirche einen komplexen und vielschichtigen Prozess dar, der die entscheidenden Entwicklungsphasen der Diözese selbst widerspiegelt. Ursprünglich bildete sich das Archiv auf der Grundlage der Unterlagen der Kanzlei des regierenden Bischofs und umfasste Materialien aller diözesanen Strukturen. Unter dem Einfluss sowohl äußerer Faktoren (Weltkriege, geopolitische Veränderungen, die Teilung Deutschlands) als auch innerer Faktoren (dezentralisierte Entscheidungen im Dokumentenmanagement, Fehlen von Archivfachkräften) war es erheblichen Veränderungen und Verlusten ausgesetzt. Die Kriegsbedingungen und das Zurücklassen des Archivbestands in Berlin führten zum unwiederbringlichen Verlust eines Teils der Dokumente, während andere Bestände des Archivguts an das Moskauer Patriarchat übergingen. Die Verlegung des Zentrums der Diözese nach dem Krieg nach München markierte eine neue Phase, die von einer vollständigeren Erhaltung der Dokumentation geprägt war. Dennoch weisen Beispiele lokaler Vernichtung von Unterlagen auf Ebene einzelner Vikariate auf den fragmentarischen Charakter der Bestandsbildung hin. Trotz aller Herausforderungen und des Fehlens einer systematisierten Archivarbeit während des größten Teils des 20. Jahrhunderts spielten die selbstlosen Bemühungen der diözesanen Sekretäre eine entscheidende Rolle bei der Bewahrung des Hauptteils des Bestands. Dies verleiht dem Archiv einen einzigartigen Charakter als Quelle, die einer kritischen Analyse bedarf – unter Berücksichtigung seiner komplexen Entstehungsgeschichte, der Verluste und der Besonderheiten seiner Erhaltung – und zugleich von außergewöhnlichem Wert für die Erforschung der Geschichte der russischen Orthodoxie und der Emigration in Deutschland ist.

Die Hauptbestände des Archivs der Deutschen Diözese der Russischen Auslandskirche

Das Archiv der Deutschen Diözese der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland stellt eine einzigartige Sammlung von Dokumenten dar, die nach mehreren Schlüsselbeständen systematisiert ist und die vielfältigen Tätigkeitsbereiche der Diözese widerspiegelt.

Diözesanarchiv in neuen Räumlichkeiten. Kloster der hl. Märtyrin Elisabeth in Buchendorf. 2009–2015. Bildmaterial aus dem Archiv des Autors.
Diözesanarchiv in neuen Räumlichkeiten. Kloster der hl. Märtyrin Elisabeth in Buchendorf. 2009–2015. Bildmaterial aus dem Archiv des Autors.

Bestand der Kirchengemeinden: Von den Anfängen bis zur Gegenwart

Einer der größten und meistgenutzten Bestände des Archivs ist der Bestand der Kirchengemeinden. Er umfasst Unterlagen sowohl bestehender als auch aufgelöster russisch-orthodoxer Gemeinden und Vikariate auf dem Gebiet Deutschlands. Zu den ältesten und wertvollsten Materialien gehören die Dokumente zur Organisation des kirchlichen Lebens in Stuttgart ab 1824, in Bad Ems ab 1874 sowie in Wiesbaden seit den 1860er-Jahren. Von besonderem historischem Wert sind die Akten zur Gründung der Gemeinde des hl. Nikolaus in München im Jahr 1922 sowie die Unterlagen der Kirchengemeinden, die in Lagern für Displaced Persons bestanden. 

Bestand der Personenstandsunterlagen: Eine Chronik menschlicher Lebenswege

Einen bedeutenden Teil des Archivs bilden die Kirchenbuchunterlagen, die besonders für genealogische Forschungen gefragt sind. Wie bereits erwähnt wurde, half die Deutsche Diözese in der Nachkriegszeit ehemaligen Landsleuten bei der Wiederbeschaffung ihrer Dokumente. Dabei handelte es sich um Bürger der UdSSR, Polens, Jugoslawiens und anderer Länder. Vertriebenen und Displaced Persons fehlten die Dokumente meist vollständig. Die Unterlagen gingen bei Bränden, Bombenangriffen oder in Lagern verloren.

Um einen Kirchenbucheintrag für eine Person wiederherzustellen, mussten mehrere Zeugen gefunden werden, die den Geburts-, Tauf- oder Trauort dieser Person bestätigen konnten. Nach Abschluss des festgelegten Verfahrens erhielten die Displaced Persons Bescheinigungen, die mit der Unterschrift des Leiters der Deutschen Diözese beglaubigt wurden.

Neben diesen Dokumenten enthalten auch die Kirchenbücher der Gemeinden, die sich in Lagern für Displaced Persons befanden, tausende Einträge. Doch dies ist nur ein Teil der Unterlagen im Bestand der Kirchenbücher. Einen großen Bestandteil dieses Bestands bilden die Kirchenbuchakten nahezu aller Gemeinden der Diözese – Tauf-, Trau- und Bestattungsregister. Diese Materialien sind sowohl für die Forschung als auch für die Nachkommen russischer Emigranten von großer Bedeutung.

Bestand der Personalakten: Porträts der Geistlichen

Das Archiv enthält einen eigenen Bestand an Personalakten der Geistlichen und kirchlichen Mitarbeiter der Diözese. Im Verlauf der Geschichte der Deutschen Diözese wirkten in ihr Diözesan- und Weihbischöfe, Hunderte von Priestern, Diakonen und Mönchen sowie Tausende von kirchlichen Mitarbeitern. Die seit 1945 erhaltenen Dokumente dieses Bestands ermöglichen es, die Biografien und das Erbe vieler bekannter kirchlicher Persönlichkeiten zu erforschen, für die Deutschland häufig nur ein Transitland auf dem Weg zu ihrem Dienst in Amerika, Australien und anderen Regionen war.

Bestand der diözesanen Korrespondenz: Stimmen einer Epoche

Außerordentlich aufschlussreich ist der Bestand der diözesanen Korrespondenz aus den 1940er bis 1990er Jahren. Er umfasst Schreiben an staatliche und finanzielle Institutionen Deutschlands, an Vertreter anderer christlicher Konfessionen sowie an Kleriker und Laien. Von besonderem Wert sind die Briefe von Kriegsgefangenen und „Ostarbeitern“, die um geistliche und materielle Unterstützung baten. Die Korrespondenz der 1980er und 1990er Jahre zeugt vom geistlichen Wiederaufleben in der UdSSR: Tausende von Menschen wandten sich an die Diözese mit Bitten um geistliche Literatur, Ikonen und Bücher, die regelmäßig an Bedürftige versandt wurden.

Fotokollektion: Eine visuelle Chronik des diözesanen Lebens

Das Fotoarchiv des Bestands umfasst eine Sammlung, die die wichtigsten Ereignisse im Leben der Diözese von den 1920er bis zu den 1990er Jahren festhält. Auf den Aufnahmen sind die Oberhäupter der Diözese, das geistliche Personal, Gemeindemitglieder sowie Teilnehmer interkonfessioneller Begegnungen und Konferenzen zu sehen. Dadurch stellt diese Sammlung eine wertvolle Quelle für die visuelle Geschichte der Russischen Kirche im Ausland dar.

Diese Bestände bewahren nicht nur die Geschichte der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland, sondern dienen auch als wichtige Ressource für die Erforschung der russischen Emigration, der Genealogie und der kulturellen Verbindungen.

Archivergänzung: Von persönlicher Initiative zur öffentlichen Geschichte

Die Kanzlei des Oberhauptes der deutschen Diözese, die Vikariate, die Kirchengemeinden und Privatpersonen dienen als zentrale Quellen für die Ergänzung des Diözesanarchivs und sichern so die Bewahrung des historischen Erbes. Die Aufbewahrungsfristen für Dokumente in der Kanzlei und ihre Übergabe an das Archiv richten sich nach der Relevanz dieser Dokumente für das aktuelle kirchliche Leben. In jeder Gemeinde entsteht durch die alltägliche Tätigkeit ein eigenes Archiv. Die Lagerungsbedingungen ermöglichen es den Gemeinden häufig, Archivdokumente über lange Zeit aufzubewahren. So werden beispielsweise in der St.-Elisabeth-Kirche in Wiesbaden Dokumente seit 1847 aufbewahrt. Nach der Auflösung einer Kirchengemeinde oder einer anderen kirchlichen Struktur werden deren Unterlagen an das Diözesanarchiv übergeben. Die Übergabe neuer Dokumente an das Archiv ist ein vielschichtiger Prozess, in dem nicht festgelegte Verfahren, sondern persönliche Initiative und zufällige Umstände eine entscheidende Rolle spielen. So gelangen Dokumente auch von Privatpersonen, insbesondere aus der russischen Emigration, in das Archiv. Im Jahr 2021 wurde dem Archiv der deutschen Diözese ein umfangreicher Bestand des Professors für Mathematikgeschichte an der Universität Mainz, des Nachkommen der Moskauer Kaufmannsfamilie erster Gilde, Nikolai Nikolajewitsch Stulow (1914–2006), übergeben.[12]

Metropolit Seraphim (Lade) mit seinem Hypodiakon N.N. Stulow. Bildmaterial aus dem Archiv der DD, Fond N.N. Stulow.
Metropolit Seraphim (Lade) mit seinem Hypodiakon N.N. Stulow. Bildmaterial aus dem Archiv der DD, Fond N.N. Stulow.

Seit seiner Jugend und bis zu seinem Lebensende leistete Nikolai Nikolajewitsch kirchlichen Dienst in der deutschen Diözese der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland. Sein Dienst begann als Subdiakon unter dem regierenden Bischof Tichon (Ljatschenko), später wurde er Kirchvorsteher der Gemeinde in Wiesbaden.

Aus den Flammen der Geschichte: die erhalten gebliebenen Dokumente des Archivs der Österreichischen Diözese. 2022. Bildmaterial aus dem Archiv des Autors.
Aus den Flammen der Geschichte: die erhalten gebliebenen Dokumente des Archivs der Österreichischen Diözese. 2022. Bildmaterial aus dem Archiv des Autors.

Im Jahr 2022 wurden Archivunterlagen der aufgelösten österreichischen Diözese der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland in das Archiv übernommen. Die österreichische Diözese wurde in den 1930er-Jahren als Vikariat der deutschen Diözese gegründet und 1946 zu einer eigenständigen Diözese erhoben. 1988 wurde die Diözese aufgehoben, und im Jahr 2000 wurde die Verwaltung der österreichischen Gemeinden Erzbischof Mark (Arndt) von Berlin und Deutschland übertragen. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass die 2022 übergebenen Unterlagen keine vollständige Sammlung darstellen, da das Archiv der ersten beiden Jahrzehnte der Geschichte dieser Diözese 1950 bei einem Brand verloren ging.

Die Heldentat der Bewahrung: Das Archiv der Familie Stulow

Besondere Aufmerksamkeit verdient die Geschichte der Übergabe des Bestandes von N. N. Stulow an das Archiv. Dieser Fall zeigt anschaulich, wie fragil das historische Gedächtnis ist und welche entscheidende Rolle eine einzelne Person bei seiner Bewahrung spielen kann. Nach dem Tod von Nikolai Nikolajewitsch Stulows Ehefrau, Maria Pawlowna (geb. Hertha Giani, 1924–2021), waren die in ihrer Wohnung aufbewahrten umfangreichen Familien- und Kirchendokumente vom vollständigen Verlust bedroht. Das langjährige Gemeindemitglied der Kirchen in Wiesbaden und Frankfurt am Main, Maria Wilhelmovna Speranskaja, Nachfahrin der Emigrant:innen der ersten Welle, rettete dieses Archiv buchstäblich vor der Entsorgung. Dank ihres Engagements konnten die unschätzbaren Materialien in das Archiv der deutschen Diözese überführt werden.

Professor Nikolaj Nikolajewitsch Stulow (1914-2006). Bildmaterial aus dem Archiv der DD, Fond N.N. Stulow.
Professor Nikolaj Nikolajewitsch Stulow (1914-2006). Bildmaterial aus dem Archiv der DD, Fond N.N. Stulow.

Dieses persönliche Engagement führte zu einer wichtigen institutionellen Zusammenarbeit: Ein Teil des Stulow-Bestandes wurde auf Beschluss des Bischofsrates aus dem Archiv der deutschen Diözese an das Staatliche Museum der Bildenden Künste A. S. Puschkin in Moskau übergeben – ein bedeutender Beitrag zur Bewahrung des Erbes der russischen Emigration. Seit 1988 ist das Puschkin-Museum Eigentümer des Stulow‘schen Zinshauses in Moskau, das 1913–1914 vom Vater und Onkel Nikolai Nikolajewitschs errichtet wurde. Zurzeit wird das Gebäude restauriert; nach Abschluss der Arbeiten wird es einen besonderen Platz im Museumsviertel einnehmen. Geplant ist die Einrichtung eines „Hauses des Textes“, das alle Museumsbibliotheken, Sammlungen seltener Bücher und Archive vereinen soll. Darüber hinaus werden dort Ausstellungsräume, eine wissenschaftliche Bibliothek, eine Druckerei und eine Buchbinderei untergebracht sein. Zudem wird eine Gedenkausstellung zur Geschichte der Familie Stulow eröffnet werden, deren bedeutender Teil aus den aus dem Archiv der deutschen Diözese übergebenen Materialien besteht. Damit wurden dank des rechtzeitigen Handelns von Maria Wilhelmovna Speranskaja Dokumente, die hätten verloren gehen können, nicht nur Teil kirchlicher und musealer Sammlungen, sondern bilden auch die Grundlage einer öffentlichen Ausstellung, die künftigen Generationen zugänglich sein wird. Dieses Beispiel unterstreicht, dass die Bewahrung des Kulturerbes nicht nur Aufgabe der Archive ist, sondern auch Verantwortung eines jeden, der sich seines Wertes bewusst ist.

Wissenschaft, Recht und Erinnerung: Drei Dimensionen der Arbeit mit dem Kirchenarchiv

Unter den Forschenden, die sich an das Archiv wenden, sind nicht nur Spezialisten für die Geschichte der Russischen Orthodoxen Kirche. Das Archiv erhält Anfragen aus den Bereichen Kirchenmusik, Emigrationsforschung und Genealogie. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurden auf Grundlage der Bestände des Archivs der deutschen Diözese mehrere Monografien[13], zahlreiche Artikel, Konferenzvorträge und Dissertationen[14] erarbeitet. Die Herkunft der Anfragen ist breit gefächert – aus Japan, den USA, Großbritannien, Polen, Spanien, Russland, Belarus, der Ukraine und weiteren Ländern.

Wie alle diözesanen Einrichtungen untersteht auch das Archiv dem Vorsteher der deutschen Diözese. Die Vielfalt der eingehenden Anfragen belegt seine vielschichtige Rolle, die weit über die Aufgaben rein historischer Forschung hinausgeht. Grundsätzlich lassen sich die Anfragen in drei Hauptkategorien einteilen.

Thematische Anfragen

Thematische Anfragen stammen von Forschern, die an wissenschaftlichen Projekten, Monographien, Artikeln und Vorträgen arbeiten. Sie interessieren sich für bestimmte Aspekte des Lebens der Russischen Auslandskirche, die Geschichte der russischen Emigration sowie kulturelle und religiöse Prozesse. Solche Anfragen tragen zu einer vertieften Erforschung der Archivbestände und zur Einführung neuer Daten in den wissenschaftlichen Umlauf bei. Sie helfen, unser Verständnis historischer Ereignisse, der Rolle der Kirche und einzelner Persönlichkeiten in der komplexen Epoche des 20. Jahrhunderts zu erweitern.

Sozial- und Rechtsanfragen

Diese Kategorie umfasst Anfragen, die mit der Wiederherstellung von Dokumenten oder der Bestätigung von Geburts-, Ehe- oder Sterbefakten verbunden sind – besonders relevant für Nachkommen von Emigranten, displaced persons und diejenigen, die einen Nachweis über ihre Herkunft suchen. Für diese Menschen ist das Archiv nicht nur ein Aufbewahrungsort der Vergangenheit, sondern ein Instrument, um die Verbindung zu ihrem verlorenen Erbe wiederherzustellen und aktuelle rechtliche Fragen zu klären. Jeder wiederhergestellte Eintrag hilft einer Person, ihre Geschichte neu zu entdecken.

Genealogische Anfragen

Am persönlichsten und emotionalsten sind die genealogischen Anfragen. Menschen suchen Informationen über ihre Vorfahren – Priester, Gemeindemitglieder, Flüchtlinge. Für sie wird das Archiv zu einem Ort, an dem man die fehlenden Glieder der Familiengeschichte finden, das Schicksal der Verwandten erfahren und eine persönliche Verbundenheit mit der Vergangenheit spüren kann. Jedes gefundene Dokument, jeder Eintrag über eine Taufe oder eine Ehe ist nicht nur eine Tatsache, sondern eine Entdeckung, die das familiäre Gedächtnis wiederherstellt und die Generationen verbindet.

Schlussfolgerung

Die Analyse des Archivs der Deutschen Diözese der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland (ROKA) erlaubt eine Reihe von Schlussfolgerungen, die seine Einzigartigkeit und seine vielschichtige Bedeutung bestätigen. Dieses Archiv ist nicht nur eine Sammlung von Dokumenten der Diözese, sondern eine vollständige Chronik der russisch-orthodoxen Präsenz auf deutschem Boden, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Seine Geschichte ist untrennbar mit den kirchlichen Institutionen des kaiserzeitlichen Russlands verbunden, und der Wert dieser Kontinuität liegt vor allem im geistlichen Erbe der russischen Orthodoxie. Die Entstehungsgeschichte seiner Bestände zeigt anschaulich, wie das institutionelle Gedächtnis der Kirche die Erschütterungen der Epochen überstanden hat. Beginnend mit Fragmenten der Archive von Botschafts- und Kurortkirchen, über die tragischen Verluste während des Ersten Weltkriegs, sammelte das Archiv ein dokumentarisches Erbe, das das Schicksal der russischen Orthodoxie widerspiegelt. Im Unterschied zur vorrevolutionären Zeit, als ein Großteil der Dokumente über das Leben der Auslandsgemeinden nach Russland übermittelt wurde, wurden nach 1917 die russischen kirchlichen Institutionen im Ausland – darunter die Deutsche Diözese der ROKA – zu wichtigen Zentren der Bewahrung historischen Gedächtnisses.

Die bewegte Geschichte des Archivs, die von Verlusten während der Weltkriege und von unzureichenden Aufbewahrungsbedingungen geprägt ist, macht seine heutige Existenz umso wertvoller. Der Verlust eines Teils der Bestände in Berlin im Jahr 1945 sowie die Entscheidung, auf der Ebene des Vikariats in der Nachkriegszeit Dokumente zu vernichten, zeugen von der Fragilität des historischen Erbes. Zugleich unterstreichen sie jedoch die außergewöhnliche Bedeutung des aufopferungsvollen Einsatzes der Diözesansekretäre, denen es gelang, den größten Teil der Archivbestände zu bewahren. Gerade ihr hingebungsvoller Dienst hat die Weitergabe unschätzbarer Materialien an künftige Generationen ermöglicht.

Dank seiner Vielfalt stellt das Archiv eine unersetzliche Quelle für die Geschichte der russischen Emigration, das Leben der Diaspora und ihre Beziehungen zu den deutschen staatlichen und kirchlichen Institutionen dar. In seinen Dokumenten spiegelt sich die Geschichte der besonderen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland sowie die tragischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts wider, die in den Schicksalen der drei Wellen russischer Emigration ihren Ausdruck fanden. Besonders wertvoll sind die Materialien, die die soziale Mission der Diözese dokumentieren: die Hilfe für displaced persons, Kriegsgefangene und „Ostarbeiter“ sowie die seelsorgerische Unterstützung orthodoxer Christen in der Sowjetunion.

Das Archiv dient nicht nur der wissenschaftlichen Forschung, sondern erfüllt auch eine wichtige sozial-rechtliche und genealogische Funktion, indem es Menschen hilft, verlorene Dokumente wiederherzustellen, ihre Wurzeln zu finden und die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu erneuern. Seine fortlaufende Erweiterung – auch durch die Aufnahme privater Nachlässe – zeigt, dass das Archiv der Deutschen Diözese ein lebendiger, sich entwickelnder Organismus ist, der als Zentrum der Bewahrung historischen Gedächtnisses, kirchlicher Identität und geistlichen Erbes fungiert. Der Wert dieser Archivsammlung reicht weit über die Grenzen der Diözese hinaus, da sie einen der zentralen Bestandteile des gesamten Archivnachlasses der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland darstellt.

[1] Kinstler, Anatolij. Archiv der Deutschen Diözese der ROKA [Russisch-Orthodoxe Kirche im Ausland] im Kontext der Geschichte. In: Archivar, Band 75, Heft 4 (2022), S. 332–337.

[2] Kinstler, A. W. Das baltische orthodoxe Thema im Archiv der deutschen Diözese der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland. // Wissenschaftlich-analytische Zeitschrift Orthodoxie im Baltikum, Nr. 3 (12). Riga, 2015, S. 11–48.

[3] Ton, Nikolaj, Hypodiakon. Erzpriester Alexij Maltzew – Theologe, Kirchenhistoriker, Übersetzer, Missionar. Zum 100. Jahrestag seines Heimgangs. Vortrag auf der gemeinsamen Pastoralkonferenz der Berliner Diözese der Russischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats und der Berliner Diözese der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland (15.–17. Dezember 2015). Online verfügbar unter: http://rokmp.de/wp-content/uploads/2016/02/maltcev.pdf

(Zugriff am 29.08.2025).

[4] Weiss, Stefan. Begegnung in Charlottengrad: Die Berliner Musikwelt empfängt das russische Exil. In: Macht Musik: Kultur und Gesellschaft in Russland. Herausgegeben vom Berliner Wissenschafts-Verlag. Bd. 59, Nr. 4, April 2009, S. 61.

[5] Kostrjukow, A. A. Die provisorische höchste kirchliche Verwaltung im Südosten Russlands als Beginn der kirchlichen Autorität im Ausland. // Bote der Orthodoxen Universität St. Tichon. Reihe 2: Geschichte. Geschichte der Russischen Orthodoxen Kirche. – 2008. – Nr. 28. – S. 59.

[6] Schkarowski, M. W. Das nationalsozialistische Deutschland und die Orthodoxe Kirche. / M. W. Schkarowski. – Moskau: Verlag des Krutizker Patriarchalhofs und der Gesellschaft der Liebhaber der Kirchengeschichte, 2002. – S. 88.

[7] Eben, S. 276.

 (Zugriff am 29.08.2025).

[9] Russisches Staatliches Militärarchiv (RGWA), Fonds 500, Inventar 3, Akte 455, Blatt 171.

[10] Archiv der Russischen Auslandskirche (AGE ROKA), Nachlass N. N. Stulow. Brief des Igumen Georgij (Sokolow) an N. N. Stulow vom 29.07.1955.

[11] AGE, Fonds 3, Inventar 5, Kiste 55, Akte 3, Blatt 14.

[12] Biografie von N. N. Stulow auf der offiziellen Website der Johannes Gutenberg-Universität Mainz: https://www.gutenberg-biographics.ub.uni-mainz.de/personen/register/eintrag/nikolai-stuloff.html

[13] Zum Beispiel: Kornilow, A. A. „Wir werden ans andere Ufer gelangen...“ Die Tätigkeit des orthodoxen Klerus im Lager der Displaced Persons in Schleißheim (1945–1951). Nischni Nowgorod – München: Fakultät für Internationale Beziehungen der Staatlichen Universität Nischni Nowgorod, Wissenschaftlich-Forschungszentrum „Russisches Ausland“, Kloster des hl. Ijob von Potschajew in München, 2011. – 140 S.;

Gawrillin, A. W. Lettische orthodoxe Geistliche auf dem amerikanischen Kontinent. Moskau: Gesellschaft der Liebhaber der Kirchengeschichte, 2013. – 407 S.;

Antonius (Doronin), Erzbischof von Grodno und Wolkowysk. Erzbischof Benedikt (Bobkowski) (1876–1951): Leben, kirchlicher Dienst und schriftliches Erbe. Minsk, 2024. – 140 S.

[14] Zum Beispiel: Makowezkij, Arkadij, Erzpriester. Die Russisch-Orthodoxe Kirche im Ausland: Entstehung und organisatorische Entwicklung ihrer Gemeinden auf kanonischem Territorium der Russischen Orthodoxen Kirche und ihre Vereinigung mit der Mutterkirche (1990–2007). Kirchliche Graduiertenschule und Doktorandenschule im Namen der heiligen Gleichapostel Kyrill und Method, 2021;

Slessarew, A. W. Kirchliches Leben der weißrussischen Emigration 1944–1991: Probleme der Organisation, jurisdiktionelle Widersprüche und Spaltungen. Vereinigter Doktorrat der Moskauer Geistlichen Akademie, der St. Petersburger Geistlichen Akademie, der Minsker Geistlichen Akademie und der Sretenskij-Geistlichen Akademie, 2022;

Fastowski, A. M. (München). Die kanonische Grundlage der Russisch-Orthodoxen Kirche im Ausland und der seelsorgliche Beitrag der Vertreter ihrer deutschen Diözese zum „Akt der kanonischen Gemeinschaft“ (1991–2002). Ausbildungseinrichtung für Orthodoxe Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität, 2024.

 

 

 

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