Die Göttliche Komödie Dante Alighieris als Weg der Wahrheit und Liebe
Erzpriester Ilya Limberger Einführung Cangrande della Scala, der Herrscher von Verona und Vicenza, war einer der wichtigsten Förderer Dante Alighieris nach dessen Verbannung aus seiner Heimatstadt Florenz. Unter della Scalas Schutz lebte der große Dichter mehrere Jahre und ihm erklärt er in einem Brief [1] , mit welchem Ziel er die Göttliche Komödie geschrieben habe: Die Komödie sollte einen Menschen, der sich in einem Zustand extremen Unglücks befindet, glücklich machen. Wenn ich die Komödie lese – und ich habe mich ihr, zugegeben, mit einiger Verspätung, in den letzten Jahren angenähert –, ist meine Seele von großem Erstaunen erfüllt über die Kraft, mit der Dante dieses von ihm gesteckte Ziel erreicht. Als orthodoxer Priester und einfach als Mensch, der in unserer nicht sehr glücklichen Welt lebt, komme ich oft in Kontakt mit verschiedenen Erscheinungsformen ausgeprägten Unglücks, manchmal bin ich auch selbst nicht weit entfernt von einem solchen Zustand. Und so spreche ich manches Mal zusammen mit Boris Pasternak: Meine Seele, die du trauerst um alle ringsumher, den lebend zu Tode Gequälten bist du eine Grabstatt geworden. Ich spreche in letzter Zeit oft mit Menschen unterschiedlichen Alters über verschiedene Themen der Göttlichen Komödie und stelle nicht selten fest, wie tief sie aus dieser Perspektive über ihr eigenes Leben nachzudenken beginnen. Ich bin kein Dante-Spezialist geworden und strebe nicht danach. Es gibt wunderbare Anspielungen auf ihn in der russischen Literatur – aber seltsamerweise nirgendwo in der Theologie. Ich betrachte mich als Laie und habe diese Zeilen aus der Perspektive eines dankbaren Lesers geschrieben, der von dem, was er gelesen hat, erstaunt und begeistert ist. Ich wollte einige meiner Gedanken der letzten Jahre an einem Ort sammeln und sie mit denen teilen, die in der Komödie vielleicht auch eine Inspiration für ein Leben in Wahrheit und Liebe finden. Eine kurze Biographie Dantes Auf halbem Wege unsers Erdenlebens Musst ich in Waldesnacht verirrt mich schauen, Weil ich den Pfad verlor des rechten Strebens. Die Hölle, I, 1. Dante Alighieri wurde 1265 in Florenz geboren und starb 1321 in Ravenna, wo er auch begraben ist. Aus politischen Gründen wurde er 1301 aus Florenz verbannt und kehrte nie dorthin zurück. Die Arbeit an der Komödie begann er zwischen 1307 und 1308, während die Handlung zu Ostern 1300 stattfindet, dem Jahr, in dem Dante 35 Jahre alt wurde. Dieses Datum teilt Dantes Leben zwar nicht arithmetisch in zwei Hälften, aber ungefähr nach dem Goldenen Schnitt, was für den Aufbau der Komödie, die mit allerlei Zahlensymbolik durchzogen ist, weitaus bedeutender ist. Ich möchte eine Episode aus Dantes Leben wiedergeben, die er selbst in der Vita Nova , einem früheren, noch in Florenz geschriebenen Werk, schildert. Darin beschreibt er seine erste Begegnung mit Beatrice, seiner Muse und Begleiterin durch das Paradies in der Göttlichen Komödie. Als er „diese Donna“– so erzählt Dante – in ihrem scharlachroten Kleid zum ersten Mal erblickte, ihr in die Augen schaute und ihr Lächeln sah, erkannte er klar, dass für ihn ein neues Leben begonnen hatte. In diesem Augenblick waren beide... 9 Jahre alt. Als beide 18 Jahre alt waren, trafen sie sich zufällig wieder, und begegneten sich danach in verschiedenen Gesellschaften. Dante schreibt jedoch, dass er Beatrices Nähe mied, da er ihre Schönheit nicht ertragen konnte. Nach den damaligen Gepflogenheiten waren beide von ihren Eltern von Kindheit an verlobt gewesen. Beatrice heiratete gemäß dieser elterlichen Vereinbarung und wurde offenbar in der Kirche getraut, in der sie später auch bestattet wurde. Dante indes heiratete Gemma Donati, mit der er ebenfalls seit seiner Kindheit verlobt gewesen war, und hatte drei Kinder mit ihr. Doch 1302 brach zwischen den Parteien der papsttreuen Schwarzen und freiheitsliebenden Weißen Guelfen in Florenz ein Bürgerkrieg aus, in dessen Folge Dante, der zur Partei der unterlegenen Weißen gehörte, aus Florenz verbannt wurde. Seine Frau Gemma, deren Vater Manetto Donati der Partei der Schwarzen Guelfen angehörte, folgte ihm nicht in die Verbannung. Sie sahen sich nie wieder, wie ein anderer großer Florentiner, ein jüngerer Zeitgenosse und der erste Interpret und Biograph Dantes, Giovanni Boccaccio, berichtet. Bereits um 1290 jedoch war etwas geschehen, das Dante schwer erkranken und beinahe sterben ließ und das den Rest seines Lebens beeinflussen sollte: Im Alter von etwa fünfundzwanzig Jahren starb Beatrice. Bocaccio beschreibt, dass Dante lange Zeit „in solchem Kummer, in solcher Zerrissenheit, in solchen Tränen war, dass viele seiner engsten Verwandten und Freunde fürchteten, es könne nur mit dem Tod enden. Sie glaubten, dass dieser bald eintreten würde, denn sie sahen, dass er kein Mitgefühl, keinen Trost annehmen wollte." In diesem Zustand blieb er ein Jahr lang. "Er wurde dünn, ließ seinen Bart wachsen und glich überhaupt nicht mehr sich Selbst." Doch mithilfe der Literatur und der Poesie überwindet Dante die Krise. Am Ende dieses schrecklichsten Jahres seines Lebens schreibt er die Vita Nova , in der er gelobt, Beatrice so zu verherrlichen, wie noch nie eine Frau verherrlicht worden sei. Als Ergebnis dieser Anstrengung entstand die „Göttliche Komödie“. Hölle und Paradies in der Weltliteratur Vor mir war nichts Erschaffenes zu finden, als Ewiges – und ewig bleib auch ich; Laßt, die ihr eingeht, alle Hoffnung schwinden! Hölle III, 7 Seit jener Urtragödie, die wir Sündenfall nennen, lebt der Mensch an der Schwelle zur Hölle, und doch bewahrt er eine – durch die Offenbarung gestützte – Intuition vom Paradies. Entsprechend gibt es in der Weltliteratur viele eindrucksvolle, authentische Beschreibungen der Hölle. Das vielleicht älteste erhaltene literarische Werk, das sumerische Gilgamesch-Epos, ist eine solche Beschreibung der Hölle. Dieses Epos, das wohl im dritten Jahrtausend vor Christus entstand, erzählt von Gilgamesch, dem König von Uruk, der sich nach dem Tod seines geliebten Freundes Enkidu auf eine Reise begibt, um Utnapischtim zu treffen, den mesopotamischen Noah, der die Sintflut überlebt und von den Göttern ewiges Leben erhalten hat. Gilgamesch will von Utnapischtim erfahren, wie auch er ewig leben könnte. Als Gilgamesch am Ufer des Großen Ozeans ankommt, trifft er Siduri, die Wirtin jenes Gasthofs, in dem die Götter während ihrer Schaffenspausen einkehren, und erzählt ihr vom Ziel seiner Reise. Und folgendes antwortet ihm Siduri: Das Leben, das du suchst, wirst du sicher nicht finden! Als die Götter die Menschheit erschufen, Teilten den Tod sie der Menschheit zu, Nahmen das Leben für sich in die Hand. Du, Gilgamesch — dein Bauch sei voll, Ergötzen magst du dich Tag und Nacht! Feiere täglich ein Freudenfest! Tanz und spiel bei Tag und Nacht! Deine Kleidung sei rein, gewaschen dein Haupt, Mit Wasser sollst du gebadet sein! Schau den Kleinen an deiner Hand, Die Gattin freu‘ sich auf deinem Schoß! Solcher Art ist das Werk der Menschen!« [2] Gleicht das etwa nicht der eingangs zitierten Aufschrift über dem Tor zur Hölle in der Göttlichen Komödie? „Laßt, die ihr eingeht, alle Hoffnung schwinden…“ Wenn ich die Weltliteratur von Homer (die Ilias ist ein Beispiel für eine unendliche Hölle) bis hin zu zeitgenössischen Schriftstellern, so weit wie es mir möglich ist, betrachte, stelle ich fest, dass viele Werke zutreffende Beschreibungen der Hölle sind. Als Beispiele können Romane wie Eugen Onegin, Ein Held unserer Zeit, Tote Seelen, Romane von Dostojewski, Tolstoi, Thomas Mann und vielen anderen gelten. Gleichzeitig sind authentische Beschreibungen des Paradieses trotz der in der Menschheit vorhandenen Intuition und Sehnsucht nach dem Paradies weitaus schwerer zu finden. Meines Erachtens wollten Schriftsteller wie Gogol oder Dostojewski eine Beschreibung des Paradieses schaffen oder haben es sogar versucht, doch ohne Erfolg. Gogol, so heißt es, verbrannte die Fortsetzung der Toten Seelen; Dostojewski starb, ohne jemals seinen positiven Helden in der Fortsetzung der Brüder Karamasow zu schreiben. Selbst das Fegefeuer erwies sich nicht als sehr plausibel und anschaulich, wenn es Raskolnikows Heilung beschreibt bzw. andeutet. Die Liebe im Osten und im Westen Meiner Meinung nach gibt es in der gesamten Weltliteratur nur zwei ganzheitliche und authentische Beschreibungen des Paradieses: Zum einen das biblische Buch Hohelied und sodann Dantes Göttliche Komödie. Es ist bemerkenswert, dass in beiden Werken das Thema der Liebe, das wesentlich mit dem Paradies verbunden ist, im Mittelpunkt steht. Die Liebe im Hohelied Er küsse mich mit Küssen seines Mundes, denn deine Liebe ist köstlicher als Wein. Hld 1, 2 Alle Lieder sind heilig, aber das Hohelied ist das Heilige der Heiligen. Rabbi Akiva ben Josef [3] In der alten jüdischen und christlichen Auslegungstradition wird die allegorische Bedeutung dieses Juwels der biblischen Poesie betont. Im jüdischen Verständnis beschreibt es die liebevolle Beziehung zwischen dem Gott der Väter und dem auserwählten Volk. Im christlichen Verständnis zwischen Christus und der Kirche sowie zwischen Christus und der Seele eines jeden Menschen. Diese Deutungen müssen sich nicht widersprechen. Der hl. Gregor von Nyssa beginnt seine Auslegung dieses relativ kurzen biblischen Buches mit einem einleitenden Brief an die Diakonissin Olympias, in dem er sagt, dass es sein Ziel sei, „die verborgene Philosophie in den Worten des Hohelieds offen zu legen, indem der auf den ersten Blick scheinbare Wortsinn durch ein gesundes Verständnis gereinigt wird.“ [4] In derselben Einleitung verteidigt der Heilige die allegorische Methode der Auslegung dieses Buches gegen diejenigen, die den Text zu wörtlich verstehen wollen. Und auch der heilige Johannes Chrysostomus sagt: „Oh, Seufzer aus den Tiefen des Herzens, die Ströme der Liebe Christi erzeugen! Oh, Seufzer, die den himmlischen Bräutigam Christus an sich ziehen! Davon sagt sie (die Kirche) selbst: Er küsse mich mit Küssen seines Mundes .“ Das Bedürfnis, den wörtlichen Inhalt des Hoheliedes irgendwie zu bereinigen und zu entschärfen, ist nicht erstaunlich. Denn an manchen Stellen erscheint er geradezu obszön. Um diese These zu prüfen, möge mein Leser die kurzen acht Kapitel des Hoheliedes selbst lesen. Bei aller unbestrittenen Legitimität der allegorischen – ich würde sie gerne metaphorisch nennen – Auslegungsmethode der Heiligen Schrift und insbesondere des Hoheliedes, bleibt doch eine Frage unbeantwortet, die ich für wesentlich halte und ohne deren Beantwortung diese Auslegung unvollständig und für den Gläubigen letztlich unbefriedigend bleibt. Diese Frage lautet wie folgt: Angenommen, wir haben den Sinn dieses Buches von seinem "buchstäblichen" Sinn "gereinigt" und sind zu einer wahren und reinen Auslegung in dem oben genannten Sinne gelangt. Aus welchem Grund aber kleidet das Hohelied diesen "reinen" Sinn in einen so "unpassenden" buchstäblichen Sinn? Mit anderen Worten, warum wird die Liebe zwischen Gott und Volk, zwischen Christus und der Kirche, zwischen Christus und der Seele des Menschen symbolisch durch die Liebe zwischen einem jungen Mann und einer Jungfrau ausgedrückt, und zwar in einer Weise, dass sie "gereinigt" werden muss? Warum ist die Liebe im Hohelied der Form nach konkret und körperlich und der Interpretation nach geistig und abstrakt? Und wie sind sie miteinander verbunden und interagieren miteinander? Wie hängen der geistige Inhalt des Hoheliedes und die Bilder, die es als Metaphern verwendet, zusammen? Wie dienen Verliebtheit, Begehren, die Faszination füreinander, die wiederholten Beschreibungen der körperlichen Anziehung, die gegenseitige Lust am Körper des anderen, die offenen und rührenden Beschreibungen der Gefühle des anderen als Metaphern für die göttliche Liebe und das Paradies? Die rein allegorische Erklärung dieses Buches versagt nicht nur bei der Beantwortung dieser wesentlichen Frage, sondern führt bewusst von ihr weg. Um sich der Antwort auf diese Fragen anzunähern und die Bedeutung des Hoheliedes als Beschreibung des Paradieses zu verstehen (wobei der Wortsinn im Hohelied gerade der Offenbarung, nicht der Verschleierung des Paradieses dient!), müssen wir betrachten, was im biblischen Verständnis mit der menschlichen Liebe infolge jener Urtragödie geschah, die wir den Sündenfall Adams nennen. „...Da wurden ihrer beider Augen aufgetan, und sie erkannten, dass sie nackt waren; und sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.“ (Gen 3,7). Die erste Folge des Sündenfalls ist eine überwältigende gegenseitige Scham, und zwar zunächst für den eigenen Körper, sodann für alles andere. Adam sprach: „... Ich hörte deine Stimme im Garten und fürchtete mich, denn ich bin nackt; darum habe ich mich verborgen!“ (Gen 3,10). Die zweite Folge ist eine überwältigende Furcht vor Gott wie vor einer tödlichen Gefahr. "... Die Frau, die du mir zur Seite gegeben hast, sie gab mir von dem Baum, und ich aß!" (Gen 3,12). Die dritte Folge ist ein unerträgliches Schuldgefühl und der Wunsch, sich davon zu befreien, indem man die Schuld auf die Frau und auf Gott abwälzt. Scham, Angst und Schuld sind die drei Geister der Hölle, die Adam fortan heimsuchen werden – vor allem auf dem Weg der Liebe. Nikolai Gumilev hat es in seinem Gedicht "Adams Traum" so ausgedrückt: Die sanfte Eva, ein Spielzeug der Götter, einst Kind, einst Morgenröte, ist jetzt für ihn eine Löwin, im unheilvollen Schimmer der Perlen, eine Botin des Sturms, des Bluts, der Lust und böser Freuden, düstrer Unglückslast. So lockt das Gold und freut den Blick, doch dunkle Kräfte im Golde stecken, sie lenken des Frevlers Hand und gießen Gift in die Becher von Brüdern, nie sind sie satt, sie lachen und quälen, sie lehren Stöhnen und wildes Geschrei. Er kämpft mit ihr. Wie ein Drache, ganz tückisch, hat er sie mit Netzen der Versuchung umgarnt. Da ist Eva die Dirne, und lallt etwas wirr, Da ist Eva – die Heilige, mit traurigem Blick, Mal Mondjungfrau, mal Jungfrau der Erde, Doch immer und überall fremd, oh so fremd. Doch es kommt noch schlimmer und hoffnungsloser. Unter dem Einfluss dieser drei Geister verrät Adam seine Frau – seine Geliebte, Bein von seinem Bein, Fleisch von seinem Fleisch, der er den Namen Frau gegeben hatte, vor der er „nackt war und sich nicht schämte“. Aus Angst vor Gott wie vor einem wilden Tier wirft Adam sie Ihm zu Füßen. "Die Frau, ... gab mir, und ich aß", ruft er aus, als wollte er sagen: "Sie, bestrafe sie! Aber nicht mich!". In literarischer Form kommen genau dieser Vorgang und seine Folgen in George Orwells brillantem Roman 1984 zum Ausdruck, der nicht nur und nicht so sehr als politische Dystopie, sondern auch als (Anti-)Liebesgeschichte zu lesen ist. Denn der Held und seine Frau, die sich mit aller Inbrunst verliebt hatten, werden gezwungen, einander zu verraten; als sie danach wieder freigelassen werden, können sie einander begegnen, doch die Liebe ist tot; sie kann nicht wiederhergestellt werden. Die von Orwell beschriebene hoffnungslose Verdammnis des politischen Systems Ozeaniens spiegelt sich also in der hoffnungslosen Verdammung der hingebungsvollen Liebe von Winston und Julia wider. Es ist erstaunlich, wie Orwell, ein nicht-gläubiger britischer Intellektueller, die Tragödie der ersten menschlichen Liebe in seinem Roman so authentisch darstellen konnte, wie sie in den einfachen und nicht unbedingt auffälligen Zeilen des dritten Kapitels des Buches Genesis beschrieben wird. In Orwells 1984 wird also deutlich, dass diese Tragödie der Liebe nichts anderes ist als die Hölle selbst. So sind die Verzerrung der Liebe zwischen Gott und Adam, zwischen Adam und seiner Frau und deren Verrat an Gott und aneinander die Grundlage der beschriebenen Urtragödie, während Scham, Angst und Schuld die Kräfte bleiben, die in der zersplitterten und entfremdeten Adam-Menschheit weiter wirken. Der heilige Nikolaj von Serbien beschreibt sie so: „Der Rabe sah die grünen Kiefern, die roten Füchse, die bunten Vögel und glupschäugigen Fische im silbernen See mit allbarmherzigem Blick an und sagte leise: ‘Ich sah mich selbst, zersplittert, maskiert, entfremdet, selbstvergessen, gefangen – mich selbst.‘“ In diesem Licht erscheint das Wort des Herrn an die Frau nicht zufällig: "Nach deinem Mann wird dein Verlangen sein, er aber wird über dich herrschen!" (Gen 3,16). Nur so konnte – bis zum Anbruch der Fülle der Zeit – die extreme Feindschaft zwischen Adam und der Frau verhindert werden, zu der sich ihre weitere Beziehung außerhalb des Paradieses hätte entwickeln können, als die Frau bereits den Namen Eva erhalten hatte. Die Intuitionen vom Paradies verbleiben jedoch unaufhörlich in der Seele des Menschen. Vom Paradies, wohlgemerkt, nicht als einem Ort, sondern als einem Zustand und einer Beziehung, als Befreiung von den Geistern der Hölle. So ist das Hohelied sowohl auf der buchstäblichen Ebene – der menschlichen Liebe – als auch auf der metaphorischen Ebene, auf der die menschliche Liebe die göttliche Liebe abbildet, eine wahre, authentische Beschreibung des Paradieses. Es gibt nicht einen Tropfen Scham, Schuld oder Angst in der Beziehung der Geliebten, an der wir durch das Hohelied teilhaben dürfen. Es gibt keinen Verrat, es hat ihn nie gegeben und es kann ihn in diesem Werk auch nicht geben. Niemand muss dort etwas bedauern, sich für etwas schämen oder jemanden fürchten. Gott wird im ganzen Hohelied nicht ein einziges Mal erwähnt, aber seine Gegenwart ist durch das ganze Buch hindurch spürbar. [5] "Lieblich duften deine Salben; dein Name ist wie ausgegossenes Salböl: darum lieben dich die Jungfrauen!" (Hld 1,2). Die verschüttete Salbe ist nicht mehr sichtbar, aber ihre Präsenz ist nicht zu übersehen, es sei denn, man hat keinen Geruchssinn. Kann also die Liebe geheilt werden? Und welcher Weg führt zu dieser Heilung? Die erste Frage wird durch das einzige "Paradies"-Buch der Bibel positiv beantwortet. In seiner Version ist das Paradies die erste geheilte Liebe, die von Angst, Scham und Schuld befreit ist oder sie sogar nie gekannt hat. Es ist keine Abhandlung über die Liebe, sondern die Liebe selbst – ohne Schuld, ohne Scham, ohne Angst –, zu der wir durch die Augen und Herzen der namenlos Liebenden selbst Zugang haben. Deshalb ist dies die Form, die der Autor ihm gegeben hat. Deshalb ist es die authentischste Form, die auf die göttliche Liebe hinweisen, auf sie verweisen und sie offenbaren kann. Gerade deshalb darf dieses Buch nicht von seiner Form "gereinigt" werden, sondern im Gegenteil, der Leser, der sich noch in der Hölle befindet, dessen Liebe noch nicht geheilt ist, muss sich mit ihm läutern. Deshalb wird das Hohelied "das Allerheiligste" genannt. Und offenbar ist das der Grund, warum wir beim Lesen des Hohelieds Scham und Angst ob seiner schuldlosen Offenheit, und Schuldgefühle wegen unserer eigenen verzerrten, ungeheilten und immer noch toxischen Liebe empfinden. Ich glaube, Dante war sich all dessen bewusst, als er über dieses Buch nachdachte. Denn die Heilung der Liebe, und damit die Antwort auf die zweite Frage, ist das zentrale Thema der Göttlichen Komödie. Die Liebe in der Göttlichen Komödie Dann stand die hehre Fantasie verwaist; Schon aber folgte Wunsch und Wille gerne der Liebe, die in ewigem Gleichschwung kreist, Ihr, die die Sonne rollt und andern Sterne. Paradies XXXIII, 142. Die Göttliche Komödie besteht aus drei Abschnitten mit jeweils 33 Gesängen. Die Gesamtzahl der Gesänge beträgt jedoch 100. Das liegt daran, dass der Hölle ein einleitender erster Gesang vorangestellt ist und somit der erste Teil der Komödie 34 Gesänge enthält. Für Dante sind die Zahlen 3, 7, 10 und ihre Kombinationen, insbesondere 9, 33, 100, wichtige Träger metaphorischer Bedeutung. Die Komödie weist unzählige solcher verschlüsselten Zahlenmetaphern auf. In den letzten 700 Jahren der Danteforschung sind viele davon gefunden worden, doch bis heute tauchen immer wieder neue, bislang unbemerkte Zahlensymboliken auf, wie geheimnisvolle Quallen aus den Tiefen des Meeres. Indem Dante der Hölle – und nicht dem Fegefeuer oder dem Paradies – einen zusätzlichen Gesang gibt, erhält er einerseits 100 Gesänge, was für ihn ein Zeichen der Vollständigkeit ist, und zeigt andererseits, dass die Hölle eine Anomalie ist, eine Störung der Harmonie. In allen drei Teilen der Komödie stellt die Liebe – und die Wahrheit, die für Dante untrennbar mit der Liebe verbunden ist – das zentrale Thema dar. Die verworfenen Seelen kommen in die Hölle, wenn sie in der Liebe und Wahrhaftigkeit unwiederbringlich gescheitert sind. So quälen sich zum Beispiel im ersten Kreis der Hölle diejenigen, die fleischlichen Lüsten gefolgt sind, indem sie von immerwährenden stürmischen Winden hin- und hergerissen werden. Dante erzählt von ihnen wie folgt: Ich hörte, dass verdammt zu solchen Plagen die werden, die – verlockt vom Sinnentruge – in Wollust frönend der Vernunft entsagen. Hölle V, 37 Dabei moralisiert Dante nicht, die Verurteilung von Sündern stellt für ihn keine moralische Genugtuung dar. Im Gegenteil, in jedem Kreis der Hölle (und des Fegefeuers) empfindet er Mitgefühl mit den dort fristenden Seelen, er spürt seine Verwandtschaft mit ihnen. Dieses Mitgefühl lässt ihn manchmal sogar ohnmächtig werden. Als er beispielsweise Paolo und Francesca trifft, deren Liebes- und Todesgeschichte zur Zeit Dantes überall bekannt war, fragt Dante sie nach ihrem Schicksal und Francesca antwortet: “O freundlich Wesen du, das hold-gewogen Uns aufsucht hier in purpurdunkler Nacht, Uns, deren Blut die Erde aufgesogen – Wär hold uns, der als Weltenkönig wacht, Wir würden um dein Heil ihn gern beschwören, Weil unser Elend mitleidsvoll dich macht. Hölle V, 88 Daraufhin erzählt Francesca ihm die Geschichte ihrer verbotenen Verliebtheit: Liebe, die Gegenliebe stets beglückte, hielt für den Freund mein Herz so glutentbrannt, dass ich’s – du siehst es – noch nicht unterdrückte! Hölle V, 103 Am Ende dieses Berichts endet der fünfte Gesang folgendermaßen: Indem der eine Schatten dies berichtet, löste der andre so in Tränen sich, dass ich vor Mitleid hinschwand wie vernichtet; Und wie ein Toter hinfällt, fiel auch ich! Hölle V, 139 In anderen Teilen der Hölle quälen sich diejenigen, die gegen die Liebe verbrochen haben: Vielfraße, Geizhälse und Verschwender, Zornige, Vergewaltiger, Selbstmörder, Verräter, bis ganz nach unten, wo die drei Hauptverräter der Menschheit aus Dantes Sicht – Brutus, Cassius und Judas – von den drei Kiefern Luzifers zernagt werden. Auch im Fegefeuer unterziehen sich die Seelen, die sich gegen die Liebe versündigt haben – die Stolzen (zu denen Dante sich selbst zählt), die Neidischen, die Zornigen, die Verzagten, die Selbstsüchtigen usw. –, einer freiwilligen und gewollten Läuterung. In all diesen Menschen sieht und beschreibt Dante Verstöße gegen die Liebe. Doch bemerkenswert ist auch folgendes: im 17. Gesang des Fegefeuers, also genau in der Mitte der Göttlichen Komödie (wenn man den ersten, einleitenden Gesang der Hölle nicht mitzählt, sind vor dem 17. Gesang des Fegefeuers 33 Gesänge der Hölle plus 16 des Fegefeuers, und danach ebenfalls 16 des Fegefeuers plus 33 des Himmels) platziert Dante eine ausführliche Erklärung seines Verständnisses der Liebe. Während also in den anderen Gesängen der aufmerksame Leser dem Denken des Dichters durch eigene Analyse näherkommen kann, offenbart Dante im Zentrum des ganzen Werkes sein Verständnis von jener Liebe, "die die Sonne rollt und andern Sterne". Diese Lehre legt er Vergil, seinem Führer in der Hölle und im Fegefeuer, in den Mund, indem er ihn zuvor fragt: „Sprich, gütger Vater, welche Fehler büßen Die Seelen hier in diesem neuen Kreise?“ Fegefeuer XVII, 82 Während Vergil antwortet, befinden sich die beiden Dichter im vierten Kreis des Fegefeuers, in dem die Seelen der Trübseligen in ständiger Unruhe umherjagen: „Trägheit zum Guten ist es,“ sprach der Weise; „Hier muss der Lässge sich auf’ s Rudern steifen, Einholen die Versäumnis seiner Reise. Fegefeuer XVII, 85 Die Trübsal ist für Dante also die Folge einer kraftlosen Liebe zum Guten, die im Fegefeuer an Kraft zunehmen soll. Anschließend beginnt Vergil, seine Liebestheorie folgendermaßen darzulegen. Dass nicht Geschöpf noch Schöpfer, teurer Sohn, Je ohne Liebe war – sei’ s Seelenliebe, Sei’ s die natürliche – das weißt du schon; Weißt auch, dass letzte frei von Irrtum bliebe, Doch jene irrt, wenn sie zu stark, zu klein, Und wenn gemein das Ziel ist ihrer Triebe. Wenn ihr die ersten Güter Ansporn leihn, Wenn sie den zweiten weiß Maß anzulegen, Kann böser Lust sie niemals Antrieb sein. Doch sucht sie Böses oder eifert wegen Des Guten heftig bald und bald verdrossen, So wirkt dem Schöpfer das Geschöpf entgegen. So hab ich die Erkenntnis dir erschlossen, Dass Liebe aller Tugend Samenkern Und dass ihr alle Laster auch entsprossen. Fegefeuer XVII, 91-105 Folglich ist also die ganze Schöpfung von Liebe erfüllt, weil sie vom guten Schöpfer erschaffen ist. Die (geistliche) Liebe der vernunftbegabten Wesen kann sich jedoch verirren, indem sie entweder “verdrossen” (im Fall der Trübseligen und Schlemmer) oder allzu “heftig” (im Fall der Habsüchtigen, Jähzornigen und Neidischen) wird. Die Liebe steht also am Beginn der erlösenden Frucht, doch sie kann auch zum Grund der Strafe werden. Die Liebe wirkt im Paradies als treibende Kraft. Doch bevor wir uns dem Paradies zuwenden, in dem Dante in Begleitung von Beatrice von Glück zu Glück eilt, sei noch ein Wort zu ihrer lang ersehnten Begegnung eingefügt, die sich folgendermaßen abspielt. Im letzten, siebten Kreis des Fegefeuers werden die Wollüstigen mit dem Feuer bestraft. Im Gegensatz zu späteren abendländischen Vorstellungen vom Fegefeuer [6] wird in Dantes Fegefeuer übrigens nur diese Kategorie der fehlgeleiteten Liebenden durch das Feuer gereinigt, was der Leidenschaft entspricht, der sie unterworfen waren. Um aus diesem Kreis auf die "andere" Seite zu gelangen, müssen Vergil und Dante eine Feuerwand durchschreiten. Doch für Dante stellt dies ein unüberwindbares Hindernis dar. Vergil beginnt ihn zu überreden, indem er ihn darauf hinweist, dass er ihn bereits durch die Gewölbe der Hölle geführt habe und ihn auch jetzt nicht verlassen werde. Doch Dante ist unfähig, auch nur einen Schritt vorwärts zu machen. “Drum komm! und gib der Furcht nicht länger Raum! (spricht Vergil) Hindurchgeschritten durch das Glutgeranke!“ – Doch ich, nicht fühlend des Gewissens Zaum, Stand starr. Fegefeuer XXVII, 31 Doch da erinnert ihn Vergil an Beatrice: Und als er sah, dass ich noch schwanke, „Von Beatricen,“ rief er vorwurfsvoll, „Trennt dich, mein Sohn, nur diese eine Schranke!“ Fegefeuer XXVII, 34 Da fasst sich Dante ein Herz und tritt in das Feuermeer. Mit großer Mühe bewegt er sich fort und spürt eine unüberwindbare Glut. Doch Vergil spricht ihm Mut zu: Der teure Freund – mit Trost mich auf den Pfaden Zu stärken – nur von Beatricen sprach: „Ich seh ihr Auge schon uns freundlich laden!“ – Fegefeuer XXVII, 52 Auf diese Weise gelangen die Dichter schließlich zum Licht, zum so genannten "irdischen Paradies", das sich im Gegensatz zum eigentlichen Paradies der himmlischen Sphären auf dem Gipfel des Fegefeuerberges befindet. Es stellt das (vorübergehend?) verlassene ursprüngliche irdische Paradies dar, die Wohnstätte Adams und seiner Frau. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass diese Erzählung die Liebe (und damit das Paradies) auf besondere Weise interpretiert. Anders als in vielen Werken der Weltliteratur behindert in der Göttlichen Komödie die Liebe des Helden zu seiner Geliebten nicht nur nicht seinen Weg zum Höchsten, sondern ist im Gegenteil Mittel und Antrieb für sein Streben nach der Wahrheit, der Liebe und deren Schöpfer. Diese Bemerkung ist wichtig, um den Kontrast zwischen zwei sich ergänzenden, aber oft konkurrierenden Auffassungen über den Platz der Liebe im Leben des Christen besser zu erkennen. Muss der Mensch alle anderen Güter, einschließlich aller irdischen Zuneigungen, zurückweisen, um das eine Gut zu erreichen? Oder kann diese Zuneigung der Antrieb sein, der ihn zur Vereinigung mit Gott führt, da sie ein fester und notwendiger Bestandteil dieses Weges ist? Die erste Frage wird von einem Teil der asketischen Tradition der Orthodoxie bejaht. Eine positive Antwort auf die zweite Frage findet sich hingegen im hier beginnenden Abschnitt der Göttlichen Komödie sowie in verschiedenen Teilen des Paradieses, auf die wir etwas später zurückkommen werden. Zunächst wollen wir uns jedoch auf den dreißigsten Gesang des Fegefeuers konzentrieren, in dem Dante endlich Beatrice begegnet. In dieser überaus dramatischen Begegnung vollzieht sich die geistige Umkehr des großen Dichters, die offensichtlich in seiner eigenen Erfahrung der Reue begründet ist. Nachdem er dank der Hoffnung, Beatrice zu treffen, die Feuerwand durchschritten hat, betritt Dante einen wunderschönen Garten, den er mit dem irdischen Paradies identifiziert, dem Ort, an dem einst Adam lebte. Am Ufer des Flusses, der sich später als Lethe erweisen wird und durch den die Seelen der Erlösten von der Erinnerung an alles Böse, das sie in ihrem irdischen Leben erfahren haben, befreit werden, trifft der Dichter auf eine majestätische, ja geradezu liturgische Prozession am gegenüberliegenden Ufer. Sie besteht aus einem glänzenden Wagen, der von geheimnisvollen Greifen gezogen wird und von vierundzwanzig Ältesten und vier prophetischen Tieren umgeben ist. Auf dem Wagen steht eine Frau. Dante ahnt bereits, dass es sich um eine Begegnung mit derjenigen handelt, von der es im Hohelied heißt: „Wer ist sie, die da heraufkommt aus der Wüste, Rauchsäulen gleich, umduftet von Myrrhe und Weihrauch, von allerlei Wohlgerüchen des Händlers?“ (Hld 3,6). Und weiter: „Wer ist sie, die hervorglänzt wie das Morgenrot, schön wie der Mond, klar wie die Sonne, furchtgebietend wie Heerscharen mit Kriegsbannern?“ (Hld 6,10). Dass dieser Bezug zum Hohelied nicht zufällig ist, sondern von Dante bewusst hergestellt wird, beweist der dreißigste Gesang. Denn als die feierliche Prozession zum Halten kommt… Das Volk, das von dem Siebenlicht geschieden Und hinterm Greifen herschritt, wandte sich Zum Wagen freudig wie zu seinem Frieden. Und wie ein Himmelsbote feierlich Sang einer dreimal zu der andern Singen: „Veni, sponsa de Libano, veni!“ Fegefeuer XXX, 10 Der lateinische Text lautet übersetzt „Komm, meine Braut, vom Libanon, komm“, und ist ein Zitat aus dem Hohelied: „Mit mir vom Libanon, ⟨meine⟩ Braut, mit mir vom Libanon sollst du kommen, sollst herabsteigen vom Gipfel des Amana, vom Gipfel des Senir und Hermon, weg von den Lagerstätten der Löwen, von den Bergen der Leoparden. Du hast mir das Herz geraubt, meine Schwester, ⟨meine⟩ Braut. Du hast mir das Herz geraubt mit einem einzigen ⟨Blick⟩ aus deinen Augen, mit einer einzigen Kette von deinem Halsschmuck.“ (Hld. 4,8-9). Als der Dichter begreift, wem er gleich begegnen wird, ist er nicht in der Lage sie anzublicken und senkt den Blick, er sucht Unterstützung bei Virgil, nur um festzustellen, dass sein Begleiter verschwunden ist. Man könnte meinen, dass der Reisende, der Hölle und Fegefeuer durchquert hat, gleich von jener getröstet wird, die „seine Seele liebt“ (Hld 3,1). Doch Beatrice wendet sich mit vorwurfsvollen Worten an ihn, wobei sie Dante – und das ist das einzige Mal in der ganzen Göttlichen Komödie – beim Namen nennt: „Dante! ob auch Virgil von dir sich kehrte, O weine nicht - n o c h nicht! Du wirst noch weinen, “Sprach sie, „verwundet erst von anderm Schwerte!“ Fegefeuer XXX, 55 Und weiter: Und königlich, doch streng noch von Gebaren, Begann sie mild, gleich dem, der bis zuletzt Die härtern Worte klug weiß aufzusparen: „Ich bin’ s! bin Beatrice – glaubst du’ s jetzt? War’ s lohnend nun, den Heilsberg zu ersteigen, Der alles Menschenglück zum Ziel sich setzt?“ Fegefeuer XXX, 70-75 Dante senkt den Blick zum Fluss, doch als er sein Spiegelbild sieht und sich seiner selbst schämt, ist er gezwungen, ins Gras zu schauen, das keine Widerspiegelung erzeugt. Während die Engel, die den Wagen umgeben, das „In te, Domine, speravi“ (auf Dich, Herr, hoffe ich) singen, offenbar Mitleid mit dem Dichter haben und um Gnade für ihn bitten, setzt Beatrice ihre Anklage fort, wobei sie sich nun an die Engel wendet: Nicht mit der ewgen Kreise Kraft allein, Die jeden Samen weiß zum Ziel zu lenken, Wie es die Gunst der Sterne lässt gedeihn, Nein, auch mit Gottes gütigen Geschenken – Die aus so dichtverhüllten Wolken schweben, Dass sie erforscht kein Auge und kein Denken – War d e r begabt in seinem Kindheitsleben, Um früh und wunderbar durch gute Taten Sich zu bewähren und emporzuheben. Doch um so schneller werden böse Saaten Entkeimen und je üppiger gedeihn, Je kräftger ungepflegtes Feld geraten. Mein Antlitz konnte Kraft zuerst ihm leihn, Aus meinen jungen Augen trank er Helle, Da durften sie ihm sichre Führer sein; Doch als ich an des zweiten Alters Schwelle Das Leben tauschte, hat er sich verschwiegen Entzogen mir, dass andrer Born ihm quelle. Als ich vom Fleisch zum Geist emporgestiegen, An Schönheit zunahm und Vollkommenheiten, Schien seine Liebe langsam zu versiegen. Des Irrtums Bahnen sah ich ihn beschreiten, Sah ihn Altäre falschen Götzen bauen, Die nie gewährten, was sie prophezeiten. Anfänglich ließ ich ihn Visionen schauen, Ihn wachend oder träumend zu entketten, Doch er rechtfertigte nicht mein Vertrauen. Da konnte eins nur den Betörten retten, Eh er dem Heile gänzlich ging verloren: Ihn zu geleiten zu der Hölle Stätten! Fegefeuer XXX, 112-138 Mit anderen Worten: als Beatrice „an des zweiten Alters Schwelle“, d.h. im Alter von 25 Jahren starb, „an Schönheit zunahm und Vollkommenheiten“, erkaltete Dantes Liebe zu ihr und er kam so weit ab vom rechten Weg, dass er durch die Hölle gehen musste, um gerettet zu werden. Beatrice erzählt anschließend, wie sie aus dem Paradies in den Limbus, also an den Ort, an dem die vorchristlichen Gerechten verweilen, hinabstieg und Vergil überredete, Dante durch die Gefilde „der für immer Verlorenen“ zu begleiten. Als sie sieht, dass Dante weder tot noch lebendig ist, beschließt Beatrice ihre Rede folgendermaßen: Verletzung wär’ s von Gottes Ratschluss droben, Wenn ihr ihn Lethe überschreiten ließet Zur Himmelskost, eh ich den Zoll erhoben Der Reue, die in Tränen sich ergießet!“ Fegefeuer XXX, 142-145 Mithin muss Dante durch die Hölle und das Fegefeuer mit all ihren Schrecken und Hindernissen gehen, um – wiederum mithilfe der Worte Beatrices – zur wahren Erkenntnis seiner selbst, seines Lebensweges und jener unumkehrbaren und irreparablen Fehler, die er aufgrund eigener Entscheidungen begangen hat, zu gelangen. Welchen Wert hat unsere vage, oft abgedroschene Reue vor Gott oder einem Priester angesichts einer solchen Umkehr? Sollten wir nicht nach dem Moment streben, in dem die Wahrheit unseres Lebens in ihrer ganzen Blöße vor uns steht? Das wusste auch ein anderer mittelalterlicher Dichter: Ich weiß, der Tag des Gerichts ist nah, Gegen uns werden dort Klagen erhoben, Doch ist Gottes Gericht nicht ein Treffen mit Gott? So sagt, wo ist dies‘ Gericht? Und ich eile dorthin. [7] Auch Dante wusste dies. Erst jetzt ist er bereit, in die Lethe zu tauchen und zu Beatrice hinüberzugehen, die von nun an seine Begleiterin beim Aufstieg ins himmlische Paradies und die Führerin seines immer größer werdenden Glücks sein wird. Doch kommen wir zunächst auf die oben gestellte Frage zurück, wie Dante die Antinomie der Liebe darstellt: Verschließt die Liebe zu irgendetwas in dieser Welt, insbesondere zu einem anderen Menschen, Gott vor uns, oder offenbart sie Ihn? Seine poetische Antwort gibt Dante im dritten Teil der Komödie – und erweist sich hier als treuer Schüler des Hohelieds. Die Augen und das Lächeln Beatrices Die Reise durch die neun Stufen – oder Himmel – des Paradieses erfolgt mit Hilfe des göttlichen Lichts. Das Licht ist gleichsam das Vehikel, um von einer Ebene zur anderen zu gelangen und um mit den Seelen auf den verschiedenen Ebenen zu kommunizieren. Letztere manifestieren sich durch das Licht und kommunizieren mit Dante durch dessen Modulation. Das Sehen ist also am Ende des Fegefeuers und im gesamten Paradies der primäre Wahrnehmungssinn und bildet zugleich die Methode für den Aufstieg. Die Schwierigkeit für den Reisenden besteht jedoch darin, dass er noch lebt, den Tod noch nicht überwunden hat, noch nicht zum reinen Geist geworden ist, im Fegefeuer noch nicht zum Paradies "gereift" ist und daher das Licht als Reise- und Kommunikationsmethode nicht voll nutzen kann. Das Licht ist zu hell für Dantes noch fleischliche Augen, die nicht in der Lage sind, es anzusehen, und an mehreren Stellen blendet es ihn gänzlich. Ein Beispiel: Nach den Vorwürfen Beatrices, die notwendig sind, damit Dante die Lethe überqueren kann, kann er endlich diejenige betrachten, die im Jahr 1300 – dem Jahr, in dem die Komödie spielt – bereits seit zehn Jahren tot ist. Den Durst von zehn langen bangen Jahren Zu löschen, hing mein Blick so fest an ihr, Dass taub mir alle andern Sinne waren. Fegefeuer XXXII,1 Doch… …wie der Sonnenpfeile grelles Blinken Die Sehkraft lähmt, so stand ich erst geblendet Und fühlte zitternd meine Lider sinken. Fegefeuer XXXII,10 Für die Augen Dantes ist sogar Beatrice, die in der Wiederspiegelung des göttlichen Lichts erstrahlt, zu hell. Wie kann unter diesen Umständen also der Aufstieg zum Ewigen Licht gelingen? Die überaus bedeutungsvolle Lösung besteht darin, dass Beatrice, die eine reine Seele ist und deren „Kraft und Schönheit“ im Paradies bereits gefestigt wurden, sich frei durch die Ebenen des Paradieses bewegt und freimütig auf die Quelle des Lichts blicken kann. Dante indes, der über diese Möglichkeit nicht verfügt, blickt auf die Augen und das Lächeln Beatrices und bewegt sich auf diese Weise mit ihr zusammen. Nur das gesteh ich: in der ganzen Zeit, Als ich den Blick ließ an der Herrin hangen, Erquickte wunschlos mich Genügsamkeit, Weil sie vom Himmel, der ihr Aug mit Prangen Erhellte, durch ihr schönes Angesicht Beseligenden Widerschein empfangen. Besiegend mich mit eines Lächelns Licht, Rief sie: „Blick auf und höre! denn dir spendet Mein Aug allein das Paradies doch nicht.“ Paradies XVIII,13-21 Der Aufstieg auf die siebte Stufe des Paradieses geschieht folgendermaßen: Auf meiner Herrin Antlitz hingebannt Schon wieder Augen mir und Sinne ruhten, Dass alles andre Denken mir entschwand. Kein Lächeln schmückte das Gesicht der Guten: „Mein Lächeln,“ sprach sie, „ließ dich branderfasst Gleich Semele vergehn zu Aschengluten, Denn meine Schönheit – die sich im Palast Der Ewigkeit erhöht, je mehr wir steigen, Wie du es stufenweis erfahren hast – Geböt ich ihrem Glanz nicht etwas Schweigen, Sie hätte deine Kraft alsbald erdrückt Gleich schwachem Laub an blitzversengten Zweigen. Wir sind zum siebenten Gestirn entrückt… Paradies XXI,1-13 Ich möchte darauf hinweisen, dass in der Erfahrung der Orthodoxie (und auch des Katholizismus) die Annäherung an das Göttliche Licht und die Göttliche Liebe größtenteils als Folge einer größtmöglichen Absage an jegliche andere Liebe und Bindung beschrieben wird, weil diese als Hindernisse beim Aufstieg des Menschen zu Gott wahrgenommen werden. So beginnen beispielsweise die Centurien über die Liebe des heiligen Maximos des Bekenners mit diesen Worten: “Die Liebe ist eine rechte Gesinnung der Seele, die der Erkenntnis Gottes nichts anderes vorzieht. Aber die Fähigkeit einer solchen Liebe kann niemand erwerben, der sein Herz an irgendetwas Irdisches hängt.” [8] Auch weiter finden sich ähnliche Sätze: “Wenn alle Dinge durch Gott und für Gott entstanden sind, und wenn Gott besser ist als die Dinge, die Er geschaffen hat, dann zeigt derjenige, der den unvergleichlich besseren Gott verlässt und sich den schlechteren Dingen zuwendet, dass er die geschaffenen Dinge Gott vorzieht.” Daraus folgt, dass der Mensch aufgefordert ist, sich zwischen Gott und irgendeinem Geschöpf zu entscheiden. Dieser Widerspruch scheint unversöhnlich zu sein, eine Synthese ist nicht gegeben. Diese Erfahrung entspringt vor allem der monastischen Tradition, in der der Verzicht auf "die Welt und alles, was in der Welt ist" die erste Stufe des Aufstiegs darstellt. Obwohl sich der monastische Weg in der Geschichte der Kirche immer wieder auf wunderbare Weise bewährt hat, stellt sein Ansatz ein gewisses Dilemma für diejenigen dar, die für ihr Leben, auch ihr kirchliches Leben, einen anderen Weg gewählt haben. Da diese Menschen in der überwältigenden Mehrheit sind (z.B. sind in der durchaus lebendigen Ukrainischen Orthodoxen Kirche von mehreren Millionen aktiv Gläubiger nur etwa fünftausend im monastischen Stand, d.h. weit weniger als ein Prozent aller Gläubigen), stellt sich die berechtigte Frage, inwieweit die monastische Tradition überhaupt in das Leben und Erleben dieser Menschen integriert werden kann. Beginnen diese Menschen nicht irgendwann, wenn sie die Ideen der monastischen Weltentsagung – vor allem aus Büchern – kennengelernt haben, ihr tägliches Leben in der Familie und im Beruf als etwas Unzulängliches, Profanes zu betrachten, das des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe nicht wirklich würdig ist? Und verlieren sie nicht die Kraft und das Herzblut, die notwendig sind, um ihren Weg würdig zu gehen, um die Gemeinschaft mit Gott und das Paradies (nicht als Ort, sondern als Zustand der Seele und des Geistes) zu erlangen? Beobachten wir nicht, dass die familiär lebenden Christen, die sich am monastischen Ideal orientieren, einerseits nicht zu wahren Mönchen werden, andererseits ihr Leben nicht in der Fülle ihrer Wünsche und ihrer Kraft führen? Ich denke, dass die Lösung, die die Göttliche Komödie anbietet, uns helfen kann, unsere Familie, unsere Arbeit, unsere sozialen und anderen Beziehungen in dieser Welt nicht als Hindernis, sondern als Antrieb auf dem Weg zu Gott zu betrachten. Während wir unseren Tätigkeiten in der Welt nachgehen – Häuser bauen, Computer programmieren, Menschen behandeln und Kinder erziehen – und die Augen und das Lächeln unserer Ehemänner, Ehefrauen, Kinder, Kollegen und vielleicht sogar Schwiegereltern betrachten, sollten wir doch diese Tätigkeiten nicht als Hindernis für das Fasten und das Gebet begreifen, sondern als einen Weg, um zu Jenem aufzusteigen, bei dem sich alles, “was getrennt auf einzle Weltenblätter” geschrieben ist, vereint? O höchstes Licht! dem menschlichen Begreifen So weit entrückt, lass doch nur e i n e n blassen Nachschimmer dem Gedächtnis wieder reifen; Lass ihn im Worte meine Zunge fassen, Der Nachwelt, ach! nur einen kleinen Funken Von deiner Herrlichkeit zu hinterlassen! Paradies XXXIII, 67-72 O Gnadenmeer, das mich mit Kraft bewehrte, Dass fest ans Licht mein Blick geheftet bliebe, So dass ich meine Sehkraft drin verzehrte! In seiner Tiefe fand ich, von der Liebe Wie in ein Buch gebunden, was getrennt Sonst Gott auf einzle Weltenblätter schriebe. Was man als Wesenheit und Zufall kennt, Verschmolz in eines hier, – das Wie? zu künden, Mit Recht mein Wort zu ausdrucksarm sich nennt! Paradies XXXIII, 82-90 Dante und der Hl. Gregor Palamas Der Heilige Gregor Palamas, der Besinger und Verteidiger der Lichterfahrung, wurde im Jahr 1296 geboren und starb 1359. Er ist damit ein jüngerer Zeitgenosse Dantes. Die Auseinandersetzungen zwischen Palamas und seinen Kontrahenten – Barlaam von Kalabrien, Gregorios Akyndinos und Nikephoros Gregoras – spielten sich vor allem in den 30er und 40er Jahren des 14. Jahrhunderts ab. Man kann nur bedauern, dass die Auseinandersetzung durch den hochmütigen und streitlustigen Barlaam losgetreten wurde, der von der Überlegenheit seiner Philosophie überzeugt war. Wäre Dante Alighieri an seiner Stelle gewesen, hätten sich die Parteien, wie mir scheint, einigen können. Denn das göttliche Licht durchdringt Dantes gesamte Reise durch das Paradies und teilweise durch das Fegefeuer. Während er den Wert des geschaffenen Lichts in jeder Hinsicht und in jeder Beziehung bekräftigt – nicht zufällig enden alle drei Gesänge der Komödie mit dem Wort "Sterne" –, bekräftigt der Dichter zugleich den Vorrang des ungeschaffenen Lichts, das dem geschaffenen Licht vorausgeht. Wo also Palamas aufgrund seiner polemischen Zuspitzung und vielleicht auch aufgrund der bereits erwähnten monastischen Tradition eine scharfe Linie zwischen geschaffenem und ungeschaffenem Licht zieht, gibt es bei Dante eine Art Synthese, in der die Einbeziehung des geschaffenen Lichts in das Ungeschaffene möglich ist. Jedenfalls können wir feststellen, dass die westliche Theologie des vierzehnten Jahrhunderts sich nicht in der Position von Barlaam und anderen Gegnern des heiligen Gregor Palamas erschöpfte. Dieses Thema verdient, wie mir scheint, eine eigene Studie. Aber auch hier sollte fairerweise angemerkt werden, dass das Abendland in seiner weiteren theologischen Entwicklung dem Weg Barlaams und nicht Dantes gefolgt ist. Barlaams Behauptung, wonach Gott nur durch die Erforschung der Natur erkannt werden könne, bildete die Grundlage für die leidenschaftliche Beschäftigung mit der Naturwissenschaft, die zu einer raschen Entwicklung der Wissenschaft im Westen führte. Denn wenn man wirklich glaubt, dass Gott nur durch das Verständnis der Natur zu erkennen ist, ist es nur natürlich, dass der Mensch alle Kräfte seiner Seele und seines Geistes einsetzt, um dieses Ziel zu erreichen. Dies ist geschehen, und so ist die Wissenschaft in gewisser Weise die Frucht einer verzerrten Auffassung von der Gemeinschaft mit Gott. Dante zieht keine spezifische theologische Unterscheidung zwischen dem geschaffenen und dem ungeschaffenen Licht. Dennoch wird deutlich, dass es das ungeschaffene Licht ist, das im Fegefeuer die Hoffnung und im Paradies die Speise, den Trank, die Kleidung und die Freude der seligen Seelen darstellt. Hierfür gibt es viele Beispiele, ich beschränke mich auf einige wenige. Als die Reisenden Vergil und Dante mühsam durch die Kreise des Fegefeuers aufsteigen, werden sie durch die Hoffnung auf die himmlischen Kräfte gestärkt: San Leo wird erklettert, abgestiegen Nach Noli, Bismantovas Gipfelschwelle Zwingt unser Fuß, hier aber heißt es fliegen! Mit Flügeln nämlich, wie sie leicht und schnelle Mir Sehnsucht gab, um den nicht zu verlieren, Der meine Leuchte blieb und Hoffnungsquelle. Fegefeuer IV,25-30 Weiter trifft Dante auf einige Seelen, die ihn folgendermaßen grüßen: „O Seele, die zum Heile pilgern kann Im Leibe, der sie trägt seit Kindesbeinen, Hemm deine Schritte!“ – so das Volk begann. „Schau her! vielleicht erkennst du unser einen, Heimwärts von ihm ein grüßend Wort zu tragen! Ach, statt zu weilen, eilst du – kennst du keinen? Uns alle hat dereinst Gewalt erschlagen, Der Sünden bis zum Tode uns erfreuend, Wo wir gewitzigt sahn den Himmel tagen. So starben wir – verzeihend und bereuend, Mit Gott versöhnt; ihn zu erschauen schafft Uns Sehnsucht nun, dem Herzen Pein erneuend.“ Fegefeuer V,46-57 Im Paradies ändert sich die Intensität der Teilhabe am Licht jedoch deutlich: Verwandelt wird, wer hier sich sonnt im Lichte! Undenkbar, dass – nach andern sich zu wenden – Auf diesen Anblick, wer ihn kennt, verzichte! Es eint das Gut, drin Wunsch und Wollen enden, Sich ganz dem Licht – und in ihm ist vollkommen, Was außer ihm sich niemals kann vollenden! Paradies, XXXIII,100-105 Das Sehen des dreieinen Lichts bringt Dantes Reise durch das Paradies und damit die ganze Göttliche Komödie zum Abschluss. Diese Schau wird dem Dichter auf seine Bitte und auf das Gebet Beatrices und der Gottesmutter offenbart und wird möglich, weil seine Sehkraft inzwischen erstarkt ist: Nicht dass sich mehr als nur ein Anblick finde In dem lebendgen Glanz, als ich mich kehrte Zum wandellosen; – nein: nur weil die Binde Vom Auge fiel, das seine Sehkraft mehrte, Geschah’ s, dass eine Wandlung dieser Glanz Mir, dem nun selbst Verwandelten, bescherte! Paradies XXXIII,109-114 Das Geistesauge des Menschen ist zugleich unfähig und fähig, das göttliche Licht in sich aufzunehmen, wenn es selbst zu Licht wird. Unfähig – wegen der Verschiedenheit der Subjekte dieser Gemeinschaft. Fähig – gemäß ihrer Gleichheit, die seit der Erschaffung der Welt in den Menschen hineingelegt ist. Denn wie der Mensch das Ebenbild und – im paradiesischen Zustand – die Ähnlichkeit des Schöpfers in sich trägt, so schließt der Schöpfer auch die Ähnlichkeit des Menschen in Sich ein. O ewig Licht, das du in dir allein, Dich selbst erkennend und von dir verstanden, In Liebe ruhst – du freust dich lächelnd dein! Nicht lange hielt das Auge mir in Banden Der Kreislauf, den gleich rückgestrahltem Licht Ich wie von dir erzeugt dich sah umranden, Als ich, gemalt mit eigner Farbenschicht, Entdeckte unser Ebenbild tiefinnen; Gleich rang, es festzuhalten, mein Gesicht. Paradies XXXIII,124-132 Während Dante sich der Erkenntnis des dreieinen Lichts nähert und “unser Ebenbild tiefinnen” entdeckt, erkennt er Es zugleich auch nicht. Doch in dieser Nicht-Erkenntnis erhebt er sich wiederum zu Ihm. So stand ich bei der plötzlichen Erscheinung: Ich wollte, wie sich Kreis und Bild bedingen, Erkennen, und die Bild- und Kreisvereinigung – Doch dazu taugten nicht die eignen Schwingen. Da fuhr ein Himmelsblitz durch meinen Geist Und gab der Sehnsucht Kraft, auch dies zu zwingen, Dann stand die hehre Fantasie verwaist; Schon aber folgte Wunsch und Wille gerne D e r L i e b e , die in ewigem Gleichschwung kreist, I h r , die die Sonne rollt und andern Sterne. Paradies XXXIII,136-145 Mit diesen Worten endet die Göttliche Komödie. Bemerkungen zum Fegefeuer In der orthodoxen Kirche gibt es keine ausgearbeitete Lehre vom Fegefeuer. Überhaupt ist wenig über das jenseitige Leben bekannt. Indes sind allerlei Reisen durch das Reich der Toten ein wichtiges Thema in der Weltliteratur, auch der christlichen und insbesondere der orthodoxen. Man denke beispielsweise an Odysseus und Äneas, Herakles und Orpheus, die alle in den Hades hinabsteigen. Im christlichen Kontext gab und gibt es zahlreiche Werke, die das Jenseits auf die eine oder andere Weise thematisieren. In der “Vision des Tundal”, einem Werk des 12. Jahrhunderts, reist beispielsweise der irische Ritter Tundal durch die Gefilde der Hölle und des Paradieses. Aus der modernen Literatur möchte ich die entzückenden Erzählungen von C. S. Lewis – Die Große Scheidung – und J. Vosnesenskaja – Meine Abenteuer nach dem Tod – erwähnen. Und ein Werk aus dem orthodoxen Mittelalter, das unter dem Namen “Die himmlischen Zollstationen der Heiligen Theodora“ [9] bekannt ist, spielt im Leben des orthodoxen Volks bis heute eine wichtige Rolle. Welche Bedürfnisse scheinen diese Erzählungen zu bedienen? Zunächst ist es mit Angst vermengte Neugier. Die Unvermeidlichkeit und Unerkennbarkeit des Lebens nach dem Tod, das Bewusstsein um die Zugehörigkeit zum von Gott abgefallenen Menschengeschlecht und die Offenbarungen des Evangeliums über eine selige oder qualvolle Ewigkeit rufen das Bedürfnis hervor, sich auf das Unvermeidliche irgendwie mental vorzubereiten. Doch es gibt auch eine Kehrseite. Sie besteht in einem gewissen Widerspruch zwischen dem Bericht des Evangeliums bzw. der traditionellen christlichen Darstellung über das Gericht und das Leben der Seele nach dem Tod einerseits, und der menschlichen Erfahrung andererseits. In den Gleichnissen und Offenbarungen des Evangeliums verläuft die Grenze zwischen Gut und Böse zwischen den Menschen. Es gibt Schafe und Böcke, es gibt den guten Weizen und das Unkraut, es gibt gute und unpassende Fische, es gibt Bäume, die gute Früchte tragen, und es gibt Dornensträucher. In einem solchen System ist es für den Allwissenden nicht schwer, die einen von den anderen zu trennen, so dass „diese hingehen zur ewigen Strafe, die Gerechten aber in das ewige Leben.“ Doch unsere Erfahrung sieht etwas anders aus. Hier verläuft die Grenze zwischen Gut und Böse eher in den Herzen der Menschen, nicht zwischen ihnen. Und wirklich, wenn ich über die Offenbarung Christi über das Jüngste Gericht im 25. Kapitel des Matthäusevangeliums nachdenke und es aus der Perspektive meiner Lebenserfahrung betrachte, komme ich in Verlegenheit. Ich habe in meinem Leben offensichtlich dem einen oder anderen Nahrung und Kleidung gegeben und ihn im Gefängnis oder Krankenhaus besucht. Doch ebenso oft bin ich vorübergegangen – habe die Not eines Anderen nicht bemerkt, wollte nicht helfen oder habe die Verantwortung bei jemandem anderen gesehen. Das kommt daher, dass in meinem Herzen sowohl Mitleid und der Wunsch, eine tatkräftige Liebe zu erweisen existeren, als auch Härte und Trägheit. Ist es unter diesen Umständen möglich, mich von mir selbst zu unterscheiden und die eine Hälfte von mir ins ewige Leben aufzunehmen und die andere in die ewige Verdammnis zu schicken? Die beiden geschilderten Welt- und Menschenbilder scheinen nicht miteinander vereinbar zu sein. Der Übergang zwischen einer dualistischen (schwarz und weiß, Sünder und Gerechter) und einer kontinuierlichen (Gut und Böse sind im Herzen des Menschen verflochten) Wahrnehmung bleibt überaus unklar. Mir scheint, dass die Literatur über das „Jenseits“ gerade Antworten auf diese Spannung zu geben versucht. Dazu gehört auch die im Westen entwickelte Lehre über das Fegefeuer, denn sie ermöglicht, die Erfahrung der Uneindeutigkeit von Gut und Böse mit dem Schicksal des Menschen nach dem Tod in Einklang zu bringen. Nach Dante gelangen jene Seelen ins Fegefeuer, die in ihrem Leben zwar sündigten, die jedoch die Kraft der Hoffnung und der Liebe aufgebracht haben, um sich vor ihrem Tod zu Gott hinzuwenden. So berichtet die Seele eines Soldaten Dante von seinem Tod und von seiner Rettung, die in einem an die Gottesmutter gerichteten Atemzug passiert: Nacht ward’s um mich – doch eh mein Blick gebrochen, Rief ich die Jungfrau an – dann fiel ich nieder – Und meine Hülle blieb dort ungerochen. Das ist die Wahrheit, sag der Welt es wieder! Schon trug ein Engel mich – doch blitzesschnelle Fuhr Satan her und schrie: ‚Weil ihm die Lider Ein Tränlein netzt, willst du zur Himmelszelle, Beraubend mich, sein ewig Teil erheben? So büße denn der Leib an dessen Stelle! – Fegefeuer V, 100-108 Während diese Seele zwar von der Hoffnungslosigkeit der Hölle befreit wird, ist sie noch nicht zum Paradies fähig. Nach Dante ist sie jedoch nicht aus äußeren Gründen, sondern aus sich selbst heraus unfähig. Die Seelen sehnen sich nach der Läuterung, deretwegen sie sich im Fegefeuer befinden und die sie als Heilung wahrnehmen. Diese Läuterung ist kein passives Erdulden von Qualen, kein Mittel zum Erreichen eines fernen Ziels, das mit den Qualen in keiner erkennbaren Verbindung steht. Im Gegenteil, jede Seele spürt die heilende Kraft der Läuterung und die Annäherung an die Heiligkeit. Besonders bemerkenswert ist, dass jede Seele so lange im Fegefeuer braucht, bis sie ihre Bereitschaft für den Aufstieg zum Paradies selbst erkennt und verspürt. So verspüren die beiden Wanderer bei ihrem Aufstieg durch das Fegefeuer so etwas wie ein Erdbeben, das von Engelsgesang begleitet wird. Ein Geist, den sie auf dem Weg antreffen, erklärt das Erbeben des Berges: Hier bebt’s, wenn eine Seele frei sich fühlt, Emporzuschweben, und die Stimmen loben Den Herrn, wenn sie in Himmelsluft sich kühlt. Der bloße Wille gilt statt aller Proben Als Reinigungsbeweis, wenn froh und frei In sich die Seele fühlt den Trieb nach oben, Der, wenn er auch zuerst erbötig sei, Gedämpft wird vom Gerechtigkeitsgefühle, Dass Sehnsucht nach der Strafe nötig sei. Fegefeuer XXI, 58-66 Es ist doch bemerkenswert, dass sich die katholische Lehre über das Fegefeuer später zu jener scholastischen, mechanistischen Vorstellung wandeln wird, wonach die Seelen Feuerqualen erleiden müssen, um ihre im irdischen Leben nicht geleisteten gute Werke aufzuholen. Gegen diese Lehren “der Lateiner” argumentierten solche Väter wie der Hl. Mark von Ephesos [10] und spätere Autoren polemischer Schriften. Ihre Argumente richten sich allerdings gegen die spätere katholische Lehre, sie betreffen nicht die Sicht, die in der Göttlichen Komödie gegeben wird. Gennadios Scholarios, von 1454-1465 Patriarch von Konstantinopel und ein Anhänger des Hesychasmus, zunächst ein Befürworter, doch später Gegner der Union von Ferrara-Florenz, schreibt: “Unsere kirchliche Lehre unterscheidet sich von der katholischen Lehre über das Fegefeuer nur in einer Hinsicht: die Läuterung wird nicht durch das Feuer vollzogen, und es geht nicht so sehr um eine Läuterung, sondern vielmehr um die Befreiung von Fesseln und Hindernissen beim Aufstieg zu Gott”. Die Läuterung beinhaltet im Gegensatz zur katholischen Lehre keine notwendigen Leiden der "mittleren Seelen", d. h. derjenigen, die im Gegensatz zu den endgültig Gefallenen auf der einen und den Gerechten auf der anderen Seite Sünder mit der Hoffnung auf Erlösung sind. Eine solche Sicht deckt sich mit derjenigen in der Göttlichen Komödie. Seltsamerweise werden diese Seelen gemäß Gennadios Scholarios einer besonderen Art von Dämonen ausgesetzt, den τελώνιοι (Zöllnern), was seine Lehre in die Nähe der sehr volkstümlichen, um nicht zu sagen banalen, Darstellung in der Vision der Heiligen Theodora rückt. Zum Abschluss Das kindlichste aller russischen Kindermärchen – das Märchen vom Goldenen Ei (Kurochka Rjaba) – erzählt davon, wie ein Mensch in seinen Lebensentscheidungen irren und ein goldenes Geschenk Gottes mit einem einfachen Hühnerei verwechseln kann. [11] Indem der Mensch die Exklusivität einer Begegnung, eines Ereignisses, einer Wendung des Schicksals nicht erkennt, versucht er mit einer Beharrlichkeit, die einer besseren Anwendung angemessen wäre, seine einzige Chance in etwas Gewöhnliches und Vertrautes zu verwandeln. "Großvater klopfte und klopfte... Großmutter klopfte und klopfte...", und in diesem nutzlosen und unangemessenen Klopfen vergeht das Leben. Noch gut, wenn, wie in einem guten Märchen, die göttliche Henne ihren unglücklichen Schützlingen eine zweite, wenn auch natürlich nicht mehr goldene, Chance gibt. Im Leben ist alles eher rigide. Wenn ein solches Märchen – das natürlich eine Perle der metaphorischen Literatur ist –, richtig verstanden, zum Nachdenken und zur Klage über alle verpassten Chancen des Lebens anregen kann, was kann man dann über ein Werk wie Dante Alighieris Göttliche Komödie sagen? Als Dante zu Beginn seines Weges in „Waldesnacht“ nur knapp dem Luchs, dem Löwen und der Wölfin entkommt und auf Vergil trifft, aber noch nicht weiß, wen er vor sich hat, ruft er ihn mit den Worten des 50. Psalms an: „Erbarme dich meiner… – Miserere di me“. Doch als er in ihm seinen geliebten Dichter erkennt, wendet er sich so an ihn: „So bist du denn Vergil, der lautre Brunnen, Dem reich des Wohllauts voller Strom entflossen?“ Ich rief’s bestürzt, die Stirn von Scham umronnen. „Du Glanz und Ehre der Apollgenossen, Gib, dass mir zur Empfehlung nun gedeihe Inbrunst und Fleiß, die mir dein Werk erschlossen! Vorbild und Meister! Dank ich deiner Weihe Doch nur den schönen Stil, der mir verliehen, Drob man ein wenig Ruhm ihm prophezeie. Sieh dort das Tier, davor ich im Entfliehen, Hilf, Weiser und Berühmter, mir von hinnen, Mir, dem durch Puls und Ader Schauder ziehen!“ – Hölle I, 79-90 Wir könnten dieselben Worte im Namen der Weltliteratur auch an Dante selbst richten. Nicht nur die italienische Literatur hat ihm, dem Schöpfer der italienischen Literatursprache, alles zu verdanken. Die russische Literatur greift mindestens seit Puschkin ständig Dantes Themen, Sprachstil, Symbolik, Ansätze, Musik, Rhythmus, Bildersprache auf, um nur einige Apsekte zu nennen. Es ist viel über dieses Thema geschrieben worden, und ich, der ich kein Spezialist, sondern ein dankbarer Leser bin, kann gar nicht alles aufzählen. Im Übrigen möchte ich nur meine Erfahrung teilen, die ich beim Erzählen von Geschichten über Dante und seine Komödie in verschiedenen Gruppen von Freunden gemacht habe. Es ist eine Erfahrung, die es einem Menschen ermöglicht, mit solchen Tiefen seines eigenen Lebens in Berührung zu kommen, die er nur intuitiv geahnt, aber nicht wirklich gekannt hat. Schließlich trägt jeder Mensch auf seinem Lebensweg Ansätze von und die Intuition über Hölle, Fegefeuer und Paradies in sich. Dieser Weg kann in der Begleitung des großen Florentiners beschritten werden. [1] Dante Alighieri , Das Schreiben an Cangrande della Scala. Lateinisch-Deutsch, Hamburg 1993. Vgl. https://blog.litteratur.ch/WordPress/?p=6270 . [2] Übersetzung nach Prof. Dr. Albert Schott, https://www.lyrik.ch/lyrik/spur1/gilgame/gilgam10.htm [3] Jüdischer Gelehrter, 50 - 135 n. Chr. Ihm wird eine allegorische Auslegung des Hoheliedes zugeschrieben, die besagt, dass mit dem Bräutigam im Hohelied Gott und mit der Braut das Volk Israel gemeint ist. Es heißt, Akiva habe die Aufnahme des Hoheliedes in die hebräische Bibel (Tanakh) maßgeblich unterstützt. Der Talmud schreibt ihm den Ausspruch zu: "Nichts in der Welt ist vergleichbar mit dem Tag, an dem das Hohelied Israel gegeben wurde" (Traktat Yadayim III:4-5). Interessanterweise wird das Hohelied der Liebe von den Juden an dem Sabbat gelesen, der zwischen dem ersten und dem achten Tag des Pessachfestes liegt. Bezieht sich das Johannesevangelium nicht darauf, wenn es erwähnt, dass "jener Sabbat ein großer Tag war"? (Johannes 19:31). [4] Hl. Gregor von Nyssa , Homilien zum Hohelied, Proömium. [5] Dies ist vielleicht nicht ganz korrekt. In Hld 8,6 folgt auf das Wort "schalheibet" (Flamme) die Endung "Jah", die in der Einheitsübersetzung mit "gewaltig" wiedergegeben wird. "Jah" ist jedoch auch ein hieratisches Suffix (z. B. in Namen wie Elijah, Jesajah) und weist auf den Namen Gottes hin. Dieser sechste Vers des achten Kapitels könnte also wie folgt wiedergegeben werden (und wird in der Schlachter und anderen Bibelübersetzungen auch so übersetzt): Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel an deinen Arm! Denn die Liebe ist stark wie der Tod, und ihr Eifer unbezwinglich wie das Totenreich; ihre Glut ist Feuerglut, eine Flamme des Herrn (des Jah[we]). Hld 8,6. [6] Jenes Fegefeuer, dem die orthodoxen Väter widersprechen. Vgl. z.B. die „Zehn Argumente gegen die Existenz eines Fegefeuers“ des Hl. Markos von Ephesos. [7] Grigor von Narek , Buch der Klagelieder. Übersetzung aus dem Russischen durch den Boten. [8] Hl. Maximos der Bekenner , Vier Centurien über die Liebe, I. 1. [9] Im Deutschen erschienen unter dem Titel „Der Bericht der Seligen Theodora über die Zollübergänge”, Edition Hagia Sophia: https://www.edition-hagia-sophia.de/p/der-bericht-der-seligen-theodora-ueber-die-zolluebergaenge [10] Markos Eugenikos , Zehn Argumente gegen die Existenz des Fegefeuers. [11] Der deutsche Text dieses kurzen Märchens lautet so: Opa und Oma hatten eine Henne Die legte ein großes Ei Völlig aus Gold lag's auf der Tenne Dotter war keiner dabei. Der Opa klopfte auf das Ei, doch das Ei, das brach nicht entzwei Die Oma klopfte auf das Ei, das Ei brach noch immer nicht entzwei Kam ein Mäuschen herbei Stieß das Ei mit dem Schwänzelein Und runter fiel es fast von allein Und brach entzwei. Da weinte das Großelternpaar Die Henne gackerte sonderbar Ein neues Ei das ist nicht schwer Ich lege es euch jetzt gleich da her Bloß golden wird es nicht mehr sein, Dafür mit Eiweiß und Dotter fein. ( http://www.russisch-fuer-kinder.de/de_start/geschichten/maerchen.php?txt=3&ru=0 )
Seit jener Urtragödie, die wir Sündenfall nennen, lebt der Mensch an der Schwelle zur Hölle, und doch bewahrt er eine – durch die Offenbarun